Grabesgrün
Dabei ging es mir nicht um die Verbrechen selbst, sondern um die komplizierten Mechanismen ihrer Aufklärung. Mir gefiel die geradlinige, unermüdliche Entschlossenheit, mit der diese Leute – ausgebuffte FBI-Agenten aus Boston, bierbäuchige Sheriffs aus Texas – die Fäden entwirrten und Puzzleteilchen zusammenfügten, bis schließlich alles einen Sinn ergab und die Lösung strahlend und unwiderlegbar vor ihnen stand. Sie waren wie Zauberer, die eine Handvoll Fetzen in einen Zylinder warfen, einmal daraufklopften und – Tadaa! – ein makelloses Seidentuch herauszogen. Nur ihre Arbeit war tausendmal besser, weil die Lösungen real und wichtig waren und weil es (so glaubte ich) keine Illusionen gab.
Ich wusste, dass es im wirklichen Leben nicht so lief, zumindest nicht immer, aber ich fand es atemberaubend, einen Job zu haben, wo zumindest die Möglichkeit bestand. Als dann Charlie sich verlobte, das Sozialamt mir mitteilte, mir würden die Bezüge gestrichen, und unter mir ein Typ einzog, der grottenschlechten Rap hörte, das alles innerhalb eines Monats, schien es sich förmlich anzubieten, nach Irland zurückzukehren und mich beim Templemore Training College zu bewerben, um Detective zu werden. Ich trauerte meinem Zimmer nicht hinterher – ich glaube, ich hatte doch angefangen, mich zu langweilen –, aber noch heute habe ich diese wunderbar trägen zwei Jahre als eine der glücklichsten Zeiten meines Lebens in Erinnerung.
Sam ging gegen halb zwölf. Ballsbridge liegt nur ein paar Minuten zu Fuß von Sandymount entfernt. Er sah mich kurz fragend an, als er seine Jacke anzog. »In welche Richtung musst du?«
»Du hast wahrscheinlich die letzte S-Bahn verpasst«, sagte Cassie ungezwungen zu mir. »Wenn du willst, kannst du auf dem Sofa schlafen.«
Ich hätte sagen können, ich würde ein Taxi nehmen, aber ich beschloss, mich auf ihre Einschätzung zu verlassen: Sam war nicht Quigley, und wir würden am nächsten Tag im Büro keine hämischen Blicke und anzüglichen Bemerkungen erleben. »Ich glaub, du hast recht«, sagte ich nach einem Blick auf die Uhr. »Macht es dir auch wirklich nichts aus?«
Falls Sam verblüfft war, so ließ er es sich nicht anmerken. »Also dann bis morgen«, sagte er munter. »Schlaft gut.«
»Du gefällst ihm«, sagte ich zu Cassie, als er weg war.
»Was Besseres fällt dir nicht ein?«, erwiderte sie und holte die Ersatzdecke und das T-Shirt aus dem Schrank, das ich bei ihr deponiert habe.
»Oh, lass Cassie ausreden, oh Cassie, du bist ja so gut –«
»Ryan, wenn Gott mich mit einem schrecklichen pubertierenden Bruder hätte strafen wollen, dann hätte ich einen.«
»Gefällt er dir auch?«
»Wenn ja, hätte ich ihm meinen berühmten Trick vorgeführt, bei dem ich mit der Zunge einen Knoten in einen Kirschstängel mache.«
»Nie im Leben. Das will ich sehen.«
»Das war ein Witz . Geh schlafen.«
Wir zogen den Futon aus. Cassie machte die Nachttischlampe an, und ich schaltete das Deckenlicht aus; sogleich wirkte das Zimmer kleiner, gemütlich und dämmerig. Sie suchte das knielange T-Shirt heraus, in dem sie schläft, und ging ins Bad, um es anzuziehen. Ich stopfte meine Socken in die Schuhe, schob sie unters Sofa, wo sie nicht im Weg waren, zog mich bis auf die Unterhose aus, streifte das T-Shirt über und krabbelte unter die Decke. Das lief inzwischen bei uns wie am Schnürchen. Ich hörte, wie sie sich Wasser ins Gesicht klatschte und etwas Volksliedartiges vor sich hin sang. Sie hatte zu tief angefangen, und so konnte sie die unteren Noten nur noch summen.
»Geht’s dir mit unserem Job wirklich so?«, fragte ich, als sie aus dem Bad kam (kleine nackte Füße, glatte Waden, muskulös wie bei einem Jungen). »Ich meine, wie Mark mit der Archäologie?«
Ich hatte mit der Frage gewartet, bis Sam gegangen war. Cassie lächelte mich amüsiert von der Seite an. »Ich hab jedenfalls noch nie Schnaps auf den Teppichboden im Büro geschüttet. Ehrenwort.«
Ich wartete. Sie schlüpfte ins Bett und stützte sich auf einen Ellbogen, Kinn auf die Faust gelegt. Im Schein der Nachttischlampe, der ihr Gesicht mit Licht übergoss, sah sie durchscheinend aus, ein Mädchen in einem Buntglasfenster. Ich wusste nicht, ob sie antworten würde, selbst jetzt, wo wir allein waren, aber nach einem Moment sagte sie: »Wir arbeiten mit der Wahrheit, suchen die Wahrheit. Das ist nicht zu verachten.«
Ich dachte darüber nach. »Lügst du deshalb so ungern?« Das ist eine von Cassies
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