Grabesgrün
Klicken der Kameras eher, als dass ich es hörte. Eines der Fotos – Rosalinds schmerzverzerrtes, nach oben gewandtes Profil, eine wenig schmeichelhafte Aufnahme von mir mit offenem Mund – prangte am nächsten Morgen mit der fetten Überschrift: ICH WILL GERECHTIGKEIT FÜR MEINE SCHWESTER! auf der Titelseite einer Boulevardzeitung, und Quigley machte sich die ganze Woche darüber lustig.
In den ersten zwei Wochen der Ermittlungen taten wir alles, wirklich alles, was uns machbar erschien. Wir und die Sonderfahnder und die Polizei vor Ort vernahmen jeden, der im Umkreis von vier Meilen um Knocknaree wohnte, und jeden, den Katy je gekannt hatte. In der Siedlung gab es einen Fall von Schizophrenie, aber der Mann hatte noch nie jemandem ein Haar gekrümmt, selbst wenn er seine Medikamente nicht nahm, was seit drei Jahren nicht mehr vorgekommen war. Wir überprüften jede Trauerkarte, die die Devlins erhielten, und befragten jede Person, die gespendet hatte, damit Katy zur Ballettschule gehen konnte. Wir ließen den Altarstein überwachen, um zu beobachten, wer dort Blumen ablegte.
Wir vernahmen Katys Freundinnen – Christina Murphy, Elisabeth McGinnis, Marianne Casey: verweinte, zittrige, tapfere junge Mädchen, die keine nützlichen Informationen zu bieten hatten, aber ich fand sie trotzdem verstörend. Ich finde es übertrieben, wenn die Leute klagen, dass Kinder heutzutage so schnell heranwachsen (meine Großeltern zum Beispiel gingen schon mit vierzehn den ganzen Tag arbeiten, was meiner Ansicht nach erwachsener ist als noch so viele Piercings), aber dennoch: Katys Freundinnen hatten einen ruhigen, abgeklärten Blick auf die Außenwelt, der nicht zu der unbeschwerten, animalischen Selbstvergessenheit passte, die ich von diesem Alter in Erinnerung hatte. »Wir haben uns gefragt, ob Jessica vielleicht eine Lernstörung hat«, sagte Christina und hörte sich an wie eine Dreißigjährige, »aber wir wollten das nicht ansprechen. Hat ... ich meine, ist Katy von einem Pädophilen ermordet worden?«
Die Antwort lautete vermutlich nein. Trotz Cassies Überzeugung, dass wir es nicht mit einem echten Sexualverbrechen zu tun hatten, überprüften wir nicht nur jeden vorbestraften Sexualstraftäter der Region, sondern auch eine ganze Reihe, bei denen es nie zur Verurteilung gekommen war, und wir verbrachten Stunden bei den Kollegen, die mit der undankbaren Aufgabe betraut sind, Pädophile im Internet aufzuspüren. Am häufigsten redeten wir mit einem Mann namens Carl. Er war jung und mager, hatte ein zerfurchtes Gesicht und erzählte uns, dass er nach nur acht Monaten schon daran denke, den Job hinzuschmeißen: Er habe zwei kleine Kinder, sagte er, und er könne sie nicht mehr so anschauen wie früher, er fühle sich einfach zu schmutzig, um sie abends zu umarmen, wenn er sich den ganzen Tag mit dieser Thematik befasst hatte.
Im Netzwerk, wie Carl es nannte, wurde wild und aufgeregt über Katy Devlin spekuliert – die Details erspare ich Ihnen –, und wir lasen Hunderte Seiten von Chatroom-Abschriften, Berichte aus einer dunklen und fremden Welt, aber ergebnislos. Ein Typ schien sich ein wenig zu gut in Katys Mörder hineinzuversetzen (»Ich glaube, er hat sie einfach ZU SEHR GELIEBT, und sie hat das nicht verstanden, deshalb hat sie ANGST BEKOMMEN«), aber als sie starb, war er online gewesen und hatte die körperlichen Vorzüge von asiatischen kleinen Mädchen gegenüber europäischen erörtert. Cassie und ich ließen uns an dem Abend ziemlich volllaufen.
Sophies Leute durchkämmten das Haus der Devlins – angeblich, um Vergleichsspuren wie Fasern und dergleichen zu sichern, aber sie hatten, wie sie anschließend meldeten, weder Blutflecken entdeckt noch irgendetwas, das zu Coopers Beschreibung der Vergewaltigungswaffe passte. Ich durchleuchtete ihre finanziellen Verhältnisse. Die Devlins lebten bescheiden (ein einziger gemeinsamer Urlaub der Familie vor vier Jahren, auf Kreta, Katys Ballettstunden und Rosalinds Geige, ein Toyota, Baujahr 1999) und hatten so gut wie keine Ersparnisse, aber sie hatten keine Schulden, das Haus war fast abbezahlt, und sie beglichen ihre Telefonrechnung stets pünktlich. Es gab keine unerklärlichen Vorgänge auf ihrem Konto, und es existierte auch keine Lebensversicherung für Katy. Es gab gar nichts.
Auf unserer Hotline ging eine rekordverdächtige Zahl von Anrufen ein, von denen ein unglaublich hoher Prozentsatz komplett nutzlos war: die Leute mit seltsam aussehenden Nachbarn; die
Weitere Kostenlose Bücher