Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Grabesgrün

Grabesgrün

Titel: Grabesgrün Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tana French
Vom Netzwerk:
Leute, die Gott weiß wo irgendwelche finsteren Gestalten gesehen hatten; die üblichen Spinner, die Visionen von dem Mord gehabt haben wollten, die anderen Spinner, die ausführlich erklärten, dergleichen sei Gottes Strafe für unsere sündige Gesellschaft. Cassie und ich nahmen uns einen ganzen Morgen Zeit, um einen Typen zu überprüfen, der uns angerufen und erzählt hatte, Gott habe Katy dafür bestraft, dass sie sich so unschicklich im Trikot den Tausenden Lesern der Irish Times präsentiert hatte. Bei ihm machten wir uns sogar einige Hoffnungen: Er weigerte sich, mit Cassie zu sprechen, weil Frauen nicht arbeiten sollten und weil ihre Jeans unschicklich sei. Aber sein Alibi war bombensicher: Er hatte sich Montagnacht in dem winzigen Rotlichtbezirk an der Baggot Street herumgetrieben, den Huren in stinkbesoffenem Zustand laut brüllend mit Feuer und Schwefel gedroht und die Autokennzeichen der Freier notiert, bis er von den Zuhältern unsanft verscheucht wurde, nur um gleich darauf wiederzukommen und von vorn anzufangen, bis die Polizei ihn schließlich gegen vier Uhr morgens in eine Ausnüchterungszelle gesteckt hatte. Anscheinend kam das alle paar Wochen vor, daher kannten sämtliche Beteiligten den Ablauf und bestätigten ihn auch gern, wobei sich der eine oder andere eine bissige Bemerkung über die vermutlichen sexuellen Neigungen des Mannes nicht verkneifen konnte.
    Es waren seltsame Wochen, seltsame, irgendwie von allem losgelöste Wochen. Selbst jetzt noch fällt es mir schwer, sie Ihnen zu beschreiben, weil sie so voller Kleinigkeiten waren, die damals belanglos und zusammenhanglos schienen: Gesichter und Worte und Wohnzimmer und Telefonate, alles lief zu einem einzigen grellen Flimmern zusammen. Erst sehr viel später, im schalen kalten Licht des Rückblicks, tauchten diese Kleinigkeiten wieder auf, ordneten sich neu und fügten sich nahtlos zusammen, um die Muster zu bilden, die wir von Anfang an hätten sehen sollen.
    Und außerdem war diese erste Ermittlungsphase ungemein quälend, weil wir, obwohl wir uns das nicht eingestehen wollten, einfach nicht weiterkamen. Jede Spur, die ich fand, endete in einer Sackgasse. O’Kelly hielt uns immer wieder anfeuernde, beschwörende Reden, dass wir diesen Fall unbedingt lösen und die Schwierigkeiten unseren Kampfgeist gerade beflügeln müssten. Die Zeitungen verlangten nach Gerechtigkeit und druckten Fotomontagen ab, wie Peter und Jamie heute aussehen würden, wenn sie unvorteilhafte Frisuren hätten. Ich stand so unter Spannung wie noch nie in meinem Leben. Aber vielleicht fällt es mir ja nur deshalb schwer, über diese Wochen zu reden, weil ich mich – trotz allem und obwohl ich weiß, dass ich mir diese Wehleidigkeit nicht leisten darf – noch immer nach ihnen sehne.

    Kleine Dinge. Natürlich besorgten wir uns sofort Katys Patientenunterlagen. Sie und Jessica waren zwei Wochen zu früh zur Welt gekommen, aber zumindest Katy hatte sich gut entwickelt, und bis sie achteinhalb wurde, hatte sie bloß die normalen Kinderkrankheiten gehabt. Dann wurde sie aus heiterem Himmel krank. Magenkrämpfe, heftiges Erbrechen, tagelange Durchfälle. In einem Monat war sie dreimal in der Notaufnahme eingeliefert worden. Vor einem Jahr hatten die Ärzte nach einem besonders schweren Anfall eine Laparotomie vorgenommen, also die Bauchhöhle zu Untersuchungszwecken geöffnet. Aufgrund dieser Operation hatte sie nicht an der Royal Ballet School anfangen können. Die Diagnose lautete »idiopathische, pseudo-obstruktive Darmerkrankung mit untypischem Fehlen einer Darmdistension«. Für mich klang das, als hätten sie alles ausgeschlossen, was irgendwie in Frage gekommen wäre, und keine Ahnung gehabt, was dem Kind fehlte.
    »Münchhausen-Stellvertreter-Syndrom?«, fragte ich Cassie, die die Arme auf der Rückenlehne meines Stuhls verschränkt hatte und über meine Schulter hinweg mitlas. Sie und ich und Sam hatten eine Ecke im SOKO-Raum gefunden, die möglichst weit von den Hotline-Telefonen entfernt war und uns ein gewisses Maß an Ungestörtheit bot, solange wir leise sprachen.
    Sie zuckte die Achseln und runzelte die Stirn. »Könnte sein. Aber ein paar Sachen passen irgendwie nicht dazu. Die meisten Münchhausen-Mütter haben im engeren oder weiteren Sinne irgendwas mit Medizin zu tun – zum Beispiel als Pflegerin oder so.« Margaret jedoch war mit fünfzehn von der Schule abgegangen und hatte bis zu ihrer Heirat in einer Keksfabrik gearbeitet. »Und sieh dir die

Weitere Kostenlose Bücher