Grabesgrün
klar, dass ich nicht hätte sagen können, wie Cassie auf andere Menschen wirkte. So wie man keinen Blick dafür hat, ob die eigene Schwester hübsch ist oder nicht. Ich konnte bei Cassie ebenso wenig objektiv sein wie bei mir selbst.
»Hab ich Sie beleidigt?« Rosalind sah mich nervös an und zupfte an einer Locke. »Ja, hab ich. Tut mir leid, tut mir leid – das passiert mir irgendwie dauernd. Ich plapper immer einfach drauf los, statt mal –«
»Nein«, sagte ich. »Alles in Ordnung. Ich bin nicht gekränkt, überhaupt nicht.«
»Doch, sind Sie. Das merk ich.« Sie schlang das Tuch noch fester um die Schultern, zog ihr Haar darunter hervor und blickte angespannt und in sich gekehrt.
Ich wusste, wenn ich sie jetzt gehen ließ, würde ich vielleicht keine weitere Gelegenheit bekommen. »Ich bin ehrlich nicht beleidigt«, sagte ich. »Aber ich hab darüber nachgedacht, was du gesagt hast. Das ist sehr aufschlussreich.«
Sie spielte mit einem Tuchzipfel, ohne mich anzusehen. »Aber sie ist doch Ihre Freundin, nicht?«
»Detective Maddox? Nein, nein, nein«, sagte ich. »Keineswegs.«
»Aber ich dachte, die Art wie sie –« Sie schlug sich eine Hand vor den Mund. »Jetzt mach ich’s schon wieder! Schluss jetzt, Rosalind!«
Ich lachte. Ich konnte nicht anders, wir waren beide so verkrampft. »Na, nun komm«, sagte ich. »Atme mal tief durch, und dann fangen wir nochmal von vorn an.«
Langsam lehnte sie sich auf der Bank zurück. »Danke, Detective Ryan. Aber, bitte ... was ist genau mit Katy passiert? Mir gehen dauernd so schreckliche Bilder durch den Kopf, verstehen Sie ... ich kann die Ungewissheit nicht ertragen.«
Wie hätte ich da nein sagen können? Also erzählte ich es ihr. Sie wurde nicht ohnmächtig oder hysterisch, brach nicht einmal in Tränen aus. Sie hörte schweigend zu, die Augen – blassblau, wie verwaschener Jeansstoff – unverwandt auf mich gerichtet. Als ich fertig war, legte sie die Finger an die Lippen und starrte hinaus ins Sonnenlicht, auf die akkurat geschnittenen Hecken, die Büromenschen mit ihren Plastikbehältern und ihrem Geplauder. Ich klopfte ihr linkisch auf die Schulter. Das Tuch fühlte sich billig an, kratzig und synthetisch, und das kindliche, gescheiterte Bemühen um Eleganz ging ans Herz. Ich wollte ihr irgendetwas sagen, etwas Weises und Tiefgründiges, wie dass der Tod nur selten dem langen Schmerz gleichkommt, zurückgelassen worden zu sein, etwas, woran sie sich erinnern konnte, wenn sie allein und fassungslos in ihrem Zimmer war und nicht schlafen konnte. Aber ich fand nicht die richtigen Worte.
»Es tut mir so leid«, sagte ich.
»Dann wurde sie nicht vergewaltigt?«
Ihre Stimme klang tonlos und hohl. »Trink deinen Kaffee«, sagte ich, weil ich irgendwo im Hinterkopf hatte, warme Getränke würden bei Schock wohltuend wirken.
»Nein, nein ...« Sie winkte geistesabwesend ab. »Sagen Sie's mir. Sie wurde nicht vergewaltigt?«
»Nein, eigentlich nicht. Und sie war schon tot. Sie hat nichts mehr gespürt.«
»Sie hat nicht sehr gelitten?«
»Kaum. Durch die Schläge hat sie gleich das Bewusstsein verloren.«
Plötzlich beugte Rosalind sich über den Kaffeebecher, und ich sah ihre Lippen beben. »Das belastet mich alles furchtbar, Detective Ryan. Ich hab das Gefühl, ich hätte besser auf sie aufpassen müssen.«
»Du wusstest ja nichts.«
»Aber ich hätte es wissen müssen. Ich hätte da sein sollen, statt mit meinen Cousinen rumzualbern. Ich bin eine schreckliche Schwester.«
»Du bist nicht verantwortlich für Katys Tod«, sagte ich mit Nachdruck. »Ich glaube, du warst ihr eine wunderbare Schwester. Du hättest gar nichts tun können.«
»Aber –« Sie stockte, schüttelte den Kopf.
»Aber was?«
»Ach ... ich hätte es wissen müssen. Mehr nicht.« Sie lächelte durch ihr Haar zaghaft zu mir hoch. »Danke, dass Sie es mir gesagt haben.«
»Jetzt bin ich dran«, sagte ich. »Darf ich dir ein paar Fragen stellen?«
Sie blickte ängstlich, aber sie atmete tief durch und nickte.
»Dein Vater hat gesagt, dass Katy sich noch nicht für Jungs interessiert hat«, sagte ich. »Stimmt das?«
Ihr Mund klappte auf und schloss sich wieder. »Ich weiß nicht«, antwortete sie mit leiser Stimme.
»Rosalind, ich weiß, das ist nicht leicht für dich. Aber wenn es nicht stimmt, müssen wir das wissen.«
»Katy war meine Schwester, Detective Ryan. Ich will nichts – Schlechtes über sie sagen.«
»Das weiß ich doch«, sagte ich beschwichtigend. »Aber
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