Grabesgrün
das Beste, was du noch für sie tun kannst, ist, mir alles zu erzählen, was mir helfen könnte, ihren Mörder zu finden.«
Schließlich seufzte sie, ein bebender kurzer Atemzug. »Ja«, sagte sie. »Sie mochte Jungs. Ich weiß nicht, wen genau, aber ich hab gehört, wie sie und ihre Freundinnen sich gegenseitig aufgezogen haben – es ging darum, wen sie geküsst hatten und so ...«
Der Gedanke an küssende Zwölfjährige irritierte mich, aber ich erinnerte mich an Katys Freundinnen, diese erfahren wirkenden, beunruhigenden jungen Mädchen. Vielleicht waren Peter und Jamie und ich bloß Spätentwickler gewesen. »Weißt du das genau? Dein Vater schien seiner Sache ziemlich sicher.«
»Mein Vater ...« Eine winzige Falte erschien zwischen Rosalinds Augenbrauen. »Mein Vater hat Katy vergöttert. Und sie hat das manchmal ein bisschen ausgenutzt. Sie hat ihm nicht immer die Wahrheit gesagt.«
»Okay«, sagte ich. »Okay. Ich verstehe. Es war richtig, dass du es mir erzählt hast.« Sie nickte, nur ein leichtes Neigen des Kopfes. »Ich muss dich noch etwas fragen. Im Mai bist du von zu Hause weggelaufen, nicht?«
Die Falte vertiefte sich. »Ich bin nicht weggelaufen , Detective Ryan. Ich bin kein Kind mehr. Ich hab ein Wochenende bei einer Freundin verbracht.«
»Wie heißt sie?«
»Karen Daly. Sie können sie fragen. Ich geb Ihnen ihre Nummer.«
»Das ist nicht nötig«, sagte ich unverbindlich. Wir hatten schon mit Karen gesprochen – einem schüchternen Mädchen mit blässlichem Gesicht, das so gar nicht meiner Vorstellung von Rosalinds Freundinnen entsprach –, und sie hatte bestätigt, dass Rosalind das ganze Wochenende über bei ihr gewesen war. Aber ich habe ein gutes Gespür dafür, wenn jemand mich täuscht, und ich war sicher, dass Karen mir etwas verschwieg. »Deine Cousine meinte, du hast das Wochenende vielleicht mit einem Freund verbracht.«
Rosalinds Mund verzog sich zu einer verärgerten Linie. »Valerie hat schlechte Gedanken. Ich weiß, so was machen manche Mädchen, aber so eine bin ich nicht.«
»Nein«, sagte ich. »Bist du auch nicht. Aber deine Eltern wussten nicht, wo du warst.«
»Nein.«
»Warum nicht?«
»Weil ich keine Lust hatte, es ihnen zu sagen«, erwiderte sie schroff. Dann blickte sie mit einem Seufzen auf, und ihre Miene wurde weich. »Ach, Detective, kennen Sie das nicht auch? Das Gefühl, einfach mal wegzumüssen? Weg von allem? Dass einem alles zu viel wird?«
»Doch«, sagte ich, »das kenne ich. Dann bist du also nicht übers Wochenende weg gewesen, weil zu Hause irgendwas Schlimmes passiert war? Wir haben gehört, du hattest Streit mit deinem Vater ...«
Rosalinds Gesicht verdunkelte sich, und sie wandte den Blick ab. Ich wartete. Nach einem Moment schüttelte sie den Kopf. »Nein. Ich ... Es war nichts dergleichen.«
Wieder gingen bei mir die Alarmglocken los, aber ihre Stimme klang jetzt gepresst, und ich wollte sie nicht unter Druck setzen, noch nicht. Heute frage ich mich natürlich, ob ich das hätte tun sollen. Aber ich glaube nicht, dass es auf lange Sicht etwas geändert hätte.
»Ich weiß, du machst im Augenblick eine schwere Zeit durch«, sagte ich, »aber lauf nicht wieder weg, okay? Wenn dir alles zu viel wird oder wenn du mit jemandem reden willst, ruf bei der Opferbetreuung an oder mich. Du hast ja meine Handynummer. Ich werde tun, was ich kann, um dir zu helfen.«
Rosalind nickte. »Danke, Detective Ryan. Ich werde dran denken.« Aber ihr Gesicht war verschlossen, niedergeschlagen, und ich hatte das Gefühl, dass ich sie im Stich gelassen hatte, auch wenn ich nicht wusste, wieso.
Cassie war im Büro und kopierte Zeugenaussagen. »Wer war das?«
»Rosalind Devlin.«
»Mhm. Was hat sie gesagt?«
Aus irgendeinem Grund hatte ich keine Lust, ihr Genaueres zu erzählen. »Nicht viel. Nur dass Katy sich für Jungs interessiert hat, auch wenn Jonathan was anderes behauptet. Wir müssen nochmal mit Katys Freundinnen sprechen. Vielleicht können die uns mehr liefern. Sie hat auch gesagt, Katy habe gelogen, aber das tun ja die meisten Kinder.«
»Sonst noch was?«
»Eigentlich nicht.«
Cassie wandte sich vom Kopierer um, ein Blatt in der Hand, und betrachtete mich mit einem Blick, den ich nicht deuten konnte. Dann sagte sie: »Zumindest redet sie mit dir. Du solltest Kontakt zu ihr halten. Vielleicht wird sie mit der Zeit offener.«
»Ich hab sie gefragt, ob bei ihr zu Hause alles in Ordnung ist«, sagte ich. »Sie hat ja gesagt, aber ich glaube
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