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Grabeskaelte

Grabeskaelte

Titel: Grabeskaelte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Maren Schwarz
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Anouschkas Tod gehörten Friedhöfe für ihn zu den trostlosesten und deprimierendsten Orten. Voller Unbehagen erinnerte er sich daran, dass er dieses Jahr noch nicht dort gewesen war. Jeder Besuch kostete ihn noch immer fast übermenschliche Kräfte und riss alte Wunden auf. Warum musste sie in der kalten, dunklen Erde ruhen? Er hätte sie all die Jahre an seiner Seite gebraucht, dringend gebraucht. Doch stattdessen waren all seine Hoffnungen, Sehnsüchte und Träume mit ihrem Tod zu Grabe getragen worden. Wie schon so oft, bedauerte er in diesem Augenblick, dass sie keine Kinder hatten. Vom Alter her hätte Cora theoretisch auch seine Tochter sein können. Er versuchte sich vorzustellen, wie man sich fühlen musste, wenn das einzige Kind starb. Es musste die Hölle sein.
    Auch wenn Sentas Verhältnis zu Cora nicht das Beste war, litt sie doch unsäglich unter ihrem Verlust. Hinzu kam, dass Cora nicht auf natürliche Weise aus dem Leben geschieden war.
    Mit dem Bewusstsein zu leben, dass da draußen irgendwo der Mörder des eigenen Kindes herumlief, man ihn ja vielleicht sogar kannte, das war für Henning das Schlimmste, was einem seiner Meinung nach passieren konnte. Erneut schwor er sich, Coras Mörder zu finden. Es musste einen Weg geben, auch wenn dieser für ihn zurzeit noch nicht absehbar war.
    Die Gräberreihen in Gedanken versunken durchschreitend, steuerte er die Gruft der von Zwieloffs an. Er trat an das Gitter heran und studierte erneut die Namen derer, die hier ruhten. Alexandra von Zwieloff – geboren am 27. März 1934, gestorben am 23. Oktober 1978 – fand hier als Letzte ihren Frieden. Ihr Herz war es, das von einer bis heute unbekannten Person herausgeschnitten wurde. Herausgeschnitten, um den Verdacht zunächst auf Maik Dölz und Uwe Siebert und später dann auf Hannes Lambrecht zu lenken.
    Wenn Henning ehrlich zu sich selbst war, dann wusste er, was ihn erneut hierher getrieben hatte. Es war die Hoffnung auf eine spontane Eingebung. Eine Art Geistesblitz, wie er ihn in zurückliegenden Fällen schon des Öfteren hatte, wenn er an einen Ort von Bedeutung zurückgekehrt war. Irgendein Hinweis, der den Nebel in seinem Kopf schlagartig lichten und die bisher dahinter verborgenen Konturen deutlich hervortreten lassen würde. Aber nichts geschah.
    Hilfe suchend sah Henning sich um, dabei fiel sein Blick auf die hohe, dichte Fichtenhecke, die den Friedhof in nordöstlicher Richtung begrenzte. Uwe Siebert hatte sie erwähnt. Es war eine ganz banale Bemerkung. Er hatte ihr keinerlei Bedeutung geschenkt, doch nun erinnerte er sich wieder daran. Was hatte Uwe gesagt? Etwas in der Art, dass sich früher an ihrer Stelle ein Zaun mit einem dahinter liegenden Haus befand. Genau, das war es! Das hatte er gesagt und nun war es ihm wieder eingefallen. Henning begriff plötzlich, dass ihm diese Botschaft die ganze Zeit über unbewusst beschäftigt hatte. Zwar konnte er augenblicklich noch nicht erkennen, wie ihm diese Nachricht weiterhelfen sollte, aber aus Erfahrung wusste er, dass derart unterschwellig in seinem Gedächtnis abgespeicherte Informationen ihm schon so manches Mal zum Durchbruch verholfen hatten.
    Als sich unverhofft eine Hand auf seine Schulter legte, schreckte er auf und zuckte zusammen.
    „Entschuldigung“, hörte er Senta Glaser hinter sich sagen. „Ich wollte Sie nicht erschrecken.“ Henning drehte sich zu ihr herum. „Keine Angst, Sie haben mich nicht erschreckt, ich war nur in Gedanken.“
    „Ich komme gerade von Coras Grab, habe ein paar Primeln darauf gepflanzt. Sie wäre morgen nämlich neununddreißig geworden“, setzte Senta erklärend hinzu, „und da habe ich Sie hier stehen sehen. Gibt es einen bestimmten Grund für ihr Hiersein?“
    „Einen Grund nicht, nein. Ich würde es eher eine Eingebung nennen. Aber es kommt mir sehr gelegen, dass wir uns hier über den Weg gelaufen sind. Ich habe mich nämlich gerade gefragt, wem das Haus, das dort hinter der Fichtenhecke verborgen liegt, gehört.” Henning zeigte dabei in die entsprechende Richtung. „Kennen Sie die Besitzer?“
    „Das Haus? Sie meinen das Haus dort hinter der Hecke?“, erkundigte sich Senta nochmals, nur um sich zu vergewissern, dass kein Irrtum vorlag.
    Henning nickte.
    Senta schien einen Augenblick lang verwundert zu sein. Dann sagte sie: „Dort wohnt Roman. Roman Caspari, da Sie schon bei ihm waren, müssten Sie das doch eigentlich wissen.“
    Henning schien verblüfft. Dann griff er sich an den Kopf.

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