Grabeskaelte
Gesetzesübertretung mehr oder weniger kam es nun auch nicht mehr an.
Kurze Zeit später stand er in Roman Casparis Schlafzimmer. Er trat ans Fenster und schob die Gardine beiseite. Wie Senta vermutet hatte, war vom Friedhof, geschweige denn der Gruft der von Zwieloffs nichts zu sehen. Die Hecke versperrte ihm die Sicht. Henning versuchte sich vorzustellen, wie es hier vor zwanzig Jahren ausgesehen haben könnte, als die Fichten noch nicht vorhanden waren. Da, so mutmaßte er, hätte es durchaus möglich sein können, einen Blick auf die betreffende Grabstätte zu werfen. Er würde sich wohl oder übel noch einen Tag gedulden müssen, um Klarheit darüber zu erlangen. Er zog die Gardine wieder zurück, blieb dann jedoch unschlüssig inmitten des Raumes stehen, um sich ein Bild von ihm zu verschaffen. Wenn er nun schon einmal hier war, dann konnte er sich bei dieser Gelegenheit auch etwas umsehen. An der Wand neben dem Fenster stand ein weiß lackierter Kleiderschrank. Diesen steuerte er an. Hinter der linken Tür befanden sich mehrere Regalböden mit ordentlich übereinander gestapelten Wäschestücken und Pullovern. Im nächsten Fach hingen Hemden, Hosen und mehrere Anzüge auf einer Stange. Auf dem Boden darunter befand sich ein Regal mit fein säuberlich aneinander gereihten, auf Hochglanz geputzten Schuhen. Henning konnte nichts Auffälliges entdecken. Roman schien ein Pedant zu sein.
Als nächstes nahm er sich das neben dem Bett stehende Nachtschränkchen vor. Eine weiße Porzel-lanlampe mit einem mit Fransen versehenen rosafarbenen Schirm und ein Radiowecker standen darauf. Henning bückte sich, um die darunter befindliche Tür zu öffnen. Ein Regalboden teilte das Möbelstück in zwei Fächer. Auf dem obersten stapelten sich Taschentücher, mehrere Pillenröhrchen, die hauptsächlich Schlaf- und Kopfschmerzmittel enthielten, und einige Taschenbücher. Im unteren Teil stand ein Schuhkarton, der fast das ganze Fach ausfüllte. Henning hob ihn heraus und nahm den Deckel ab. Er war bis an den Rand mit teilweise schon ziemlich vergilbten Fotografien gefüllt. Interessiert nahm Henning einige davon zur Hand, um sie sich anzusehen. Die Personen, die darauf abgebildet waren, sagten ihm jedoch nichts. Hin und wieder glaubte er Romans Züge auf einigen der Bilder, einmal als Jungen, auf anderen wieder als Heranwachsenden, zu erkennen. Auf dem Boden des Kartons angelangt, erregte ein Bild, von dem ganz offensichtlich ein Teil entfernt worden war, seine Aufmerksamkeit. Henning zog es heraus, um es sich zu betrachten. Es kam ihm bekannt vor und er wusste auch, wo er es erst vor kurzem gesehen hatte und wen es darstellte: Es zeigte Senta als Braut. Die Seite, auf der ihr Mann stand, fehlte. Jemand hatte mit einem glatten Schnitt die Fotografie zweigeteilt.
Nachdenklich fragte sich Henning, was das zu bedeuten hatte. Weshalb hatte Roman, denn wer sonst sollte es getan haben, die Aufnahme zerschnitten? Grundlos war das sicher nicht geschehen. Er nahm sich vor, mit Senta darüber zu sprechen. Vielleicht gab es ja eine ganz harmlose Erklärung dafür.
Nachdem er den Pappkarton zurückgestellt hatte, verließ er den Raum. Er begab sich nach unten, um dort von Zimmer zu Zimmer zu gehen. Alle waren in dem gleichen schlichten, jedoch äußerst geschmackvollen Stil eingerichtet: glänzendes Holz, weiße Wände. Auf dem Boden lagen dicke, dezent gemusterte Teppiche, die jeden seiner Schritte schluckten. Da er nicht wusste, wonach er suchen sollte, beließ er es bei einem Rundgang. Sentas Schlüsselbund hatte er auf die Ablage der Flurgarderobe gelegt. Als er ihn nun wieder an sich nehmen wollte, fiel ein darunter liegendes Schriftstück zu Boden. Henning bückte sich, um es aufzuheben. Es war Romans, aus mehreren Seiten bestehende Telefonabrechnung. Routinemäßig überflog er sie. Der Teil, auf dem die einzelnen Gespräche nach Datum, Zielrufnummer und dem dazugehörigen Ort aufgelistet waren, erregte seine Aufmerksamkeit. Henning fiel auf, dass Roman kurz vor Coras Tod mehrmals in Leipzig angerufen hatte. Irgendwo in seinem Hirn schrillte eine Alarmglocke. Ein momentan noch ziemlich abwegiger Verdacht nahm Gestalt an. Henning musste sich schnellstmöglich Klarheit verschaffen. Er nahm die betreffende Seite der Telefonrechnung an sich und verließ das Haus. In einem Auerbacher Schreibwarenladen ließ er sich mehrere Kopien anfertigen. Dann ging er zurück, legte die Rechnung wieder an ihren ursprünglichen Platz, verschloss das
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