Grabeskaelte
„Natürlich! Wie konnte mir das entgehen!“ Verlegen fuhr er sich mit der Hand durchs Haar.
„Wahrscheinlich ist mir die Hecke bei meinem Besuch damals nicht aufgefallen, deshalb habe ich Herrn Casparis Anwesen damit auch nicht in Verbindung gebracht.“
„Darf ich fragen, welche Bedeutung das für Sie hat? Ich meine das Roman der Besitzer des Hauses ist? Schließen Sie etwa aus dieser Tatsache, dass er etwas mit Coras Tod zu tun haben könnte?“ Sentas letzte Worte glichen einem Flüstern.
Gespannt, ja geradezu ängstlich wartete sie auf eine Antwort.
„Wenn Ihre Frage darauf abzielt zu erfahren, ob ich Herrn Caspari verdächtige, dann kann ich Sie beruhigen. Mich würde lediglich interessieren, ob er vor über zwanzig Jahren von seinem Haus aus die Gruft der von Zwieloffs einsehen konnte. Es wäre doch immerhin möglich, dass er damals unwissentlich eine Beobachtung gemacht hat, die wichtig sein könnte.“
Senta atmete erleichtert auf. „Na, Gott sei Dank! Ich dachte schon, Sie würden Roman jetzt auch noch zu den Verdächtigen zählen. Ich komme schon nicht klar damit, dass Sie Ralph für einen Mörder halten. Wenn jetzt für Roman das Gleiche gegolten hätte, ich glaube, das wäre zu viel für mich gewesen.“
Eigentlich hätte Henning ihr sagen wollen, dass Roman als Täter keineswegs ausschied, doch auf Grund ihrer Bemerkung verkniff er es sich. Warum sollte er Senta unnötig in Angst und Schrecken versetzen. Sie war ja schon jetzt das reinste Nervenbündel.
„Aber wenn es wichtig für Sie ist, zu wissen, ob man vom Haus aus etwas gesehen haben könnte“, hörte er Senta sagen, „dann wüsste ich da einen Weg, um das herauszufinden.“
„Ach ja? Und welchen?“
„Ganz einfach! Ich habe einen Schlüssel für Romans Haus. Wenn Sie möchten, dann sperre ich Ihnen auf und Sie könnten nachsehen.“
„Das wäre allerdings einen Versuch wert“, pflichtete Henning ihr bei.
„Dann würde ich vorschlagen, Sie folgen mir einfach.“
Henning wandte sich dem Ausgang zu, doch Senta hielt ihn zurück: „Nicht doch, wir können gleich hier lang, es gibt da eine Abkürzung.“
Bereitwillig folgte er ihr, als sie sich durch die Gräberreihen hindurch einen Weg in die entsprechende Richtung bahnte. Gleich neben der Aussegnungshalle, im Anschluss an die Hecke, gab es eine lichte Stelle in den ansonsten dicht an dicht stehenden Fichten. Diese steuerte Senta an und zwängte sich hindurch. Henning tat es ihr gleich. Dahinter verborgen, befand sich eine windschiefe, unverschlossene Gartenpforte. Coras Mutter öffnete sie und schlüpfte hindurch. Henning folgte ihr. Wenig später standen sie auf einer Wiese, die den Blick auf Romans Anwesen freigab. Durch einen, von einer immergrünen Kletterpflanze überwucherten Torbogen, gelangten sie zur Vorderfront des Hauses. Diesen Teil des Gartens kannte Henning. Neben der Treppe, die zur Haustür führte, stand ein umgestülpter Tontopf. Senta beugte sich hinab, hob ihn an und zog einen Schlüsselbund hervor, den sie Henning in die Hand drückte. Erklärend fügte sie hinzu: „Der große Silberne ist für die Haustür. Ich kann leider nicht so lange bleiben, habe noch einen Termin beim Zahnarzt. Schauen Sie sich in Ruhe um. Ich würde Ihnen empfehlen, oben in Romans Schlafzimmer nachzusehen. Dieser Raum hat als einziger ein Fenster, das zu der Seite des Friedhofs zeigt, an der Sie interessiert sind. Sie finden die Schlafstube ganz leicht. Von dem an die Haustür grenzenden Flur aus führt eine Treppe nach oben. Dort angelangt halten Sie sich rechts. Es ist die letzte Tür links, auf dem nach dieser Seite abzweigenden Gang. Sie können sie gar nicht verfehlen. Allerdings wage ich zu bezweifeln, dass Sie die Gruft von dort aus einsehen können. Dafür scheint mir die Hecke im Laufe der Jahre zu hoch gewachsen zu sein. Aber wie auch immer, versuchen Sie ihr Glück. Schaden kann’s nicht und Roman hätte bestimmt nichts dagegen, da bin ich mir sicher.“
„Ach übrigens“, fügte Senta, die schon im Gehen begriffen war, noch hinzu, „nur für den Fall dass Sie es noch nicht wissen, Herr Caspari kommt morgen zurück.“ Sie sah auf ihre Uhr. „Oh, je! Ich muss los! Wenn Sie den Schlüssel nicht mehr brauchen, dann legen Sie ihn einfach wieder unter den Tontopf zurück.“
Mit diesen Worten ließ sie Henning stehen und hastete davon.
Unschlüssig sah dieser auf den Bund in seiner Hand. Dann zuckte er mit den Schultern. Was soll’s, dachte er. Auf eine
Weitere Kostenlose Bücher