Grabesstille
miteinander, du und Alice?«
»Worüber sollten wir denn reden?«
»Na, über zehn Jahre Ehe vielleicht.«
Er starrte mit leerem Blick aus dem Fenster. »Es gibt nichts mehr zu sagen. Für sie ist die Sache abgeschlossen.«
Aber nicht für Frost, dachte Jane. Vor acht Monaten war Alice, seine Frau, aus der gemeinsamen Wohnung ausgezogen. Seitdem musste Jane sich mit schöner Regelmäßigkeit Frosts Liebesabenteuer anhören, in die er sich immer wieder mit Begeisterung stürzte und die immer wieder unglücklich endeten. Da war die üppige Blondine, die ihm erzählt hatte, sie trage keine Unterwäsche. Die beängstigend athletische Bibliothekarin mit ihrer zerlesenen Ausgabe des Kamasutra. Die Quäkerin mit den rosigen Wangen, die ihn unter den Tisch trank. Er erzählte all diese Geschichten mit einer Mischung aus Ratlosigkeit und Staunen, doch mehr als alles andere war es Traurigkeit, was sie in diesen Tagen in seinen Augen sah. Dabei war er keineswegs eine schlechte Partie – schlank und durchtrainiert, dazu gut aussehend auf eine etwas glatte, farblose Art. Es war also nicht einzusehen, warum er solche Schwierigkeiten hatte, eine passende Frau zu finden.
Aber er trauert immer noch Alice nach.
Sie bogen in die Beach Street ein und näherten sich dem Herzen von Chinatown, als das flackernde Blaulicht eines Streifenwagens des Boston PD sie blendete. Jane hielt hinter dem Wagen an, und sie stiegen aus. Eine unangenehm feuchte und kühle Frühlingsnacht empfing sie. Trotz der nächtlichen Stunde hatten sich einige Schaulustige auf dem Gehsteig versammelt, und Jane hörte sowohl chinesisches als auch englisches Stimmengemurmel. Zweifellos stellten sie alle die ewig gleiche Frage: Weiß irgendjemand, was hier passiert ist?
Zusammen mit Frost ging sie die Knapp Street entlang und schlüpfte unter dem Absperrband hindurch, hinter dem ein Streifenpolizist postiert war. »Detective Rizzoli und Detective Frost, Morddezernat«, meldete sie.
»Sie liegt da drüben«, entgegnete der Officer kurz angebunden. Er deutete die Gasse hinunter auf einen Müllcontainer, an dem ein zweiter Polizist Wache hielt.
Als sie näher traten, erkannte Jane, dass es nicht der Container war, den der Cop bewachte, sondern etwas, das davor auf dem Gehsteig lag. Sie blieb abrupt stehen und starrte auf eine abgetrennte rechte Hand.
»Hoppla«, sagte Frost.
Der Cop lachte. »Genauso hab ich auch reagiert.«
»Wer hat sie gefunden?«
»Die Teilnehmer einer Führung – ›Chinatown-Geisterspaziergang‹ nennt sich das Ganze. Ein Junge aus der Gruppe hat die Hand aufgehoben, weil er sie für eine Attrappe hielt. Sie war so frisch, dass sie noch blutete. Als er merkte, dass sie echt war, ließ er sie sofort fallen, und seitdem hat niemand sie angerührt. Die haben wohl kaum damit gerechnet, bei ihrer Geistertour so was zu finden.«
»Wo sind diese Touristen jetzt?«
»Sie waren alle fix und fertig; haben darauf bestanden, in ihre Hotels zurückzugehen, aber ich habe mir Namen und Kontaktdaten geben lassen. Der Reiseführer ist ein junger Chinese hier aus dem Viertel; er sagt, Sie können ihn jederzeit gerne sprechen. Niemand hat außer der Hand irgendetwas gesehen. Die Leute haben die Notrufzentrale angerufen, und dort glaubten sie zuerst an einen schlechten Scherz. Wir konnten nicht sofort herkommen, weil wir uns erst noch mit ein paar Krawallbrüdern drüben in Charlestown rumschlagen mussten.«
Jane ging in die Hocke und leuchtete die Hand mit ihrer Taschenlampe an. Es war eine verblüffend saubere Amputation, die Schnittfläche mit getrocknetem Blut verkrustet. Es schien sich um die Hand einer Frau zu handeln, mit blassen, schlanken Fingern und verstörend elegant manikürten Nägeln. Kein Ring, keine Uhr. »Und sie hat einfach da auf dem Boden gelegen?«
»Ja. Wundert mich, dass noch keine Ratten dran waren, die riechen doch frisches Fleisch zehn Meter gegen den Wind.«
»Ich sehe keine Bissspuren. Kann noch nicht lange hier liegen.«
»Ach, übrigens, ich hab noch was anderes entdeckt.« Der Polizist richtete den Strahl seiner Taschenlampe auf einen mattgrauen Gegenstand, der ein paar Meter entfernt lag.
Frost besah ihn sich aus der Nähe. »Das ist eine Heckler & Koch. Nicht billig«, sagte er. Er blickte sich zu Jane um. »Mit Schalldämpfer.«
»Hat einer der Touristen die Waffe angefasst?«, fragte Jane.
»Niemand hat die Waffe angefasst«, antwortete der Officer. »Sie haben sie gar nicht gesehen.«
»Wir haben also eine
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