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Grabesstille

Grabesstille

Titel: Grabesstille Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tess Gerritsen
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alle dunkel waren.
    »Wir werden jemanden wecken müssen, der uns hereinlässt«, sagte Frost.
    Jane trat auf eine Gruppe Chinesen zu, die sich auf der Straße versammelt hatten, um den nächtlichen Einsatz zu beobachten. »Kennen Sie irgendwelche Mieter in diesem Haus?«, fragte sie. »Wir müssen da rein.«
    Die Männer starrten sie nur verständnislos an.
    »Dieses Haus«, wiederholte sie und zeigte darauf. »Wir müssen rauf aufs Dach.«
    »Du, ich glaube nicht, dass es was bringt, wenn du lauter redest«, meinte Frost. »Die verstehen kein Englisch.«
    Jane seufzte. Stimmt, wir sind ja in Chinatown. »Wir brauchen einen Dolmetscher.«
    »Beim District A-1 haben sie einen neuen Detective. Ich glaube, er ist chinesischer Abstammung.«
    »Wir können nicht auf ihn warten, das dauert zu lange.« Sie stieg die Stufen zum Eingang hinauf, überflog die Namen auf der Klingelleiste und drückte aufs Geratewohl einen Knopf. Auch auf mehrfaches Klingeln kam keine Antwort. Sie probierte es bei einer anderen Wohnung, und diesmal knackte es in der Gegensprechanlage.
    » Wei? «, ertönte eine weibliche Stimme.
    »Hier ist die Polizei«, sagte Jane. »Können Sie uns bitte ins Haus lassen?«
    »Wei?«
    »Bitte machen Sie die Tür auf!«
    Ein paar Minuten vergingen, dann war eine Kinderstimme zu vernehmen: »Meine Großmutter will wissen, wer Sie sind.«
    »Detective Jane Rizzoli, Boston PD «, antwortete Jane. »Wir müssen rauf aufs Dach. Könntest du uns ins Haus lassen?«
    Endlich ertönte der Summer, und sie traten ein.
    Das Haus war mindestens hundert Jahre alt, und die Holzstufen ächzten, als Jane und Frost die Treppe hinaufstiegen. Als sie im ersten Stock anlangten, flog eine Tür auf, und Jane erhaschte einen Blick in eine enge Wohnung, aus der zwei kleine Mädchen sie neugierig anstarrten. Die jüngere war ungefähr so alt wie Janes Tochter Regina, und Jane hielt kurz inne, um ihr ein Lächeln zu schenken und »Hallo« zu murmeln.
    Sofort wurde das kleinere Mädchen von einer Frau auf den Arm gehoben, und die Tür fiel mit einem Knall ins Schloss.
    »Ich fürchte, Fremde sind hier nicht allzu willkommen«, bemerkte Frost.
    Sie stiegen weiter. Vom dritten Obergeschoss führte eine schmale Treppe zum Dach hinauf. Die Außentür war nicht verschlossen, doch sie gab ein durchdringendes Kreischen von sich, als sie sie aufstießen.
    Sie traten hinaus in die tiefe Dunkelheit vor dem ersten Morgengrauen, erhellt nur vom diffusen Schein der Lichter der Stadt. Jane leuchtete mit ihrer Taschenlampe und sah einen Plastiktisch mit Stühlen, daneben Töpfe mit Kräutern. Eine Wäscheleine war schwer mit Laken behängt, die wie Gespenster im Wind tanzten. Und durch die flatternde Bettwäsche hindurch erspähte sie noch etwas anderes – etwas Dunkles, Unförmiges, das nahe der Dachkante lag.
    Ohne ein Wort zu wechseln, zogen Jane und Frost automatisch Papierüberzieher aus ihren Taschen und bückten sich, um sie sich über die Schuhe zu streifen. Dann erst duckten sie sich unter den Laken hindurch und gingen weiter zur Kante. Ihre Überschuhe knisterten auf dem Untergrund aus Teerpappe.
    Im ersten Moment sagte keiner etwas. Sie standen Seite an Seite, die Taschenlampen auf eine Lache von getrocknetem Blut gerichtet. Und auf das, was in der Lache lag.
    »Ich schätze, wir haben den Rest von ihr gefunden«, sagte Frost.

5
    Chinatown lag mitten im Herzen von Boston, begrenzt vom Finanzdistrikt im Norden und dem grünen Rasen des Common im Westen. Doch als Maura durch das Paifang-Tor mit den vier geschnitzten Löwen schritt, hatte sie das Gefühl, in eine völlig andere Stadt einzutauchen, in eine andere Welt. Zuletzt hatte sie Chinatown an einem Samstagmorgen im Oktober besucht. Damals hatte eine Gruppe von alten Männern mit ihren Spielbrettern unter dem Tor gesessen, Dame gespielt, Tee geschlürft und sich auf Chinesisch unterhalten. An jenem kalten Tag hatte sie sich hier mit Daniel zu einem Dim-Sum-Frühstück getroffen. Es sollte eine ihrer letzten gemeinsamen Mahlzeiten sein, und die Erinnerung daran traf sie jetzt wie ein Messerstich ins Herz. Jetzt war es Frühling, es versprach ein heiterer Tag zu werden, und die gleichen Männer saßen in der kühlen Morgenluft, spielten und plauderten: Doch die Melancholie verdüsterte alles, was sie sah, und verwandelte Sonnenschein in Finsternis.
    Sie ging vorbei an Restaurants mit Aquarien, in denen es von silbrigen Fischen wimmelte, an staubigen Importläden, vollgestopft mit

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