Grabesstille
beweisen, auch nicht geringer.« Bella sah Jane an. »Sie wissen, wie das Märchen anfängt, nicht wahr? Wie Sun Wukong aus einem Felsen geboren wird und sich in einen Krieger verwandelt? An dem Abend, als mein Vater ermordet wurde, bin ich aus diesem Steinkeller aufgetaucht, genau wie der Affenkönig. Auch ich habe mich verwandelt. Ich wurde zu der, die ich heute bin.«
Jane sah sie an, und sie wusste, dass sie noch nie in härtere Augen geblickt hatte als diese. Sie versuchte, sich Bella als verängstigte Fünfjährige vorzustellen, doch in dieser wilden Kreatur konnte sie keine Spur von jenem Kind entdecken. Wenn ich Zeugin des Mordes an einem geliebten Menschen geworden wäre, wäre ich dann anders?
Jane stand auf. »Sie haben recht, Bella. Ich habe nicht genug in der Hand, um Sie festzuhalten. Noch nicht.«
»Sie meinen – Sie lassen mich frei?«
»Ja, Sie können gehen.«
»Und man wird mir nicht folgen? Ich bin frei zu tun, was ich tun muss?«
»Was heißt das?«
Bella erhob sich von ihrem Stuhl wie eine Löwin, die vor der Jagd ihre Glieder streckt, und die beiden Frauen starrten einander über den Tisch hinweg an. »Was auch immer nötig ist«, sagte sie.
34
Ich kann seinen Atem hören, irgendwo in der Dunkelheit hinter dem grellen Licht, das mich blendet. Er hat mich sein Gesicht nicht sehen lassen; alles, was ich von ihm kenne, ist seine butterweiche Stimme. Aber ich habe nicht mitgespielt, und er wird allmählich wütend, weil er merkt, dass er mich nicht so leicht brechen kann.
Jetzt ist er außerdem beunruhigt, weil er den Peilsender gefunden hat, der um mein Fußgelenk geschnallt war. Er hat die Batterie herausgenommen und den Sender so unbrauchbar gemacht.
»Mit wem arbeiten Sie zusammen?«, fragt er. Er hält mir das Gerät vor die Augen. »Wer hat Ihre Spur verfolgt?«
Obwohl mein Kiefer schmerzt und meine Lippen geschwollen sind, bringe ich ein heiseres Flüstern zustande: »Jemand, dem Sie niemals begegnen wollen. Aber das werden Sie bald.«
»Nicht, wenn die Sie nicht finden können.« Er wirft den Peilsender weg, und als das Gerät auf dem Boden aufschlägt, ist es, als ob meine letzte Hoffnung zerschellt. Ich war noch bewusstlos, als er es mir abgenommen hat, und ich weiß daher nicht, wann es aufgehört hat zu senden. Vielleicht schon lange bevor ich an diesem Ort eingetroffen bin – und das bedeutet, dass niemand mich finden kann. Dass ich hier sterben werde.
Und ich weiß nicht einmal, wo »hier« ist.
Meine Handgelenke stecken in Handschellen, die an der Wand befestigt sind. Der Boden unter meinen nackten Füßen ist aus Beton. Das einzige Licht kommt von der Lampe, mit der er mir in die Augen leuchtet; kein Sonnenstrahl dringt durch irgendwelche Fensterritzen ein. Vielleicht ist es Nacht. Oder vielleicht ist dies ein Ort, an den sich nie ein Lichtstrahl verirrt, aus dem kein Schrei nach außen dringt. Ich kneife die Augen zusammen, um sie vor dem grellen Licht zu schützen, und mühe mich, etwas von meiner Umgebung zu erkennen, doch da ist nur dieser helle Schein und jenseits davon Finsternis. Meine Hände zucken, wie beseelt von dem Wunsch, eine Waffe zu ergreifen, damit ich vollenden kann, worauf ich so viele Jahre gewartet habe.
»Sie suchen Ihr Schwert, nicht wahr?«, sagt er und schwenkt die Klinge im Lichtstrahl, sodass ich sie sehen kann. »Eine prächtige Waffe. Scharf genug, um mit minimalem Kraftaufwand einen Finger abzutrennen. Haben Sie die beiden damit erledigt?« Er schwingt den Säbel, und die Klinge saust zischend an meinem Gesicht vorbei. »Ich habe gehört, dass ihre Hand glatt abgetrennt war. Und ihm hat es mit einem einzigen Hieb den Kopf abgeschlagen. Zwei Profikiller, und beide haben sich überrumpeln lassen.« Er hält mir die Klinge an den Hals, drückt so fest zu, dass mein pochender Puls sich auf das Metall überträgt. »Wollen wir mal testen, was es mit Ihrem Hals anrichten kann?«
Ich verharre reglos, den Blick auf das schwarze Oval seines Gesichts gerichtet. Ich habe mich bereits damit abgefunden, dass ich sterben muss, und bin auf alles vorbereitet. In Wahrheit bin ich schon seit neunzehn Jahren bereit zu sterben, und mit einem Säbelhieb wird er mir die Freiheit schenken, meinem Mann nachzufolgen – ein Wiedersehen, das ich nur deshalb so lange aufgeschoben habe, weil meine Aufgabe hier noch nicht erledigt ist. Was ich jetzt empfinde, ist nicht Angst, sondern nur Bedauern darüber, dass ich versagt habe. Dass dieser Mann nie die Schneide
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