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Grabesstille

Grabesstille

Titel: Grabesstille Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tess Gerritsen
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diese abgeschiedene Oase der Ruhe, verborgen vor neugierigen Blicken? Als sie zu den Männern hinübergingen, sah Jane, wie der Hund sie mit wachen Augen beobachtete und munter mit dem Schwanz wedelte. Der Hund war offenbar der Einzige unter ihnen, der gute Laune hatte. Die Männer und Frauen, die sich im Schatten der Bäume versammelt hatten, standen stumm und mit ernsten Mienen da, denn sie wussten genau, was da höchstwahrscheinlich unter ihren Füßen lag.
    »Hier ist die Erde umgegraben worden«, sagte Tam und deutete auf einen unbewachsenen Fleck unter den Bäumen. »Die Stelle war mit losen Zweigen getarnt.«
    Ein frisches Grab. Jane ließ den Blick über den von Bäumen beschatteten Rasen wandern, das dichte Gebüsch, all diese versteckten, schattigen Winkel. Diese scheinbare Idylle deckte ein Verbrechen, dessen Dimensionen Jane kaum auszuloten vermochte. Wie viele Leichen liegen hier?, fragte sie sich. Wie viele stumme Mädchen, denen jetzt endlich eine Stimme gegeben wird? Plötzlich fühlte sie sich schier überwältigt von der Aufgabe, die vor ihnen lag. Alles tat ihr weh, sie war hungrig, und sie hatte mehr als genug von Tod und Gewalt.
    »Frost, ich glaube, ich überlasse dir das hier. Ich fahre heim«, sagte sie und ging über den Rasen davon. Zurück in den Sonnenschein.
    »Rizzoli«, rief Tam und schloss sich ihr an. »Ich wollte Ihnen nur Bescheid sagen – ich habe vorhin mit dem Krankenhaus telefoniert. Iris Fang hat die Operation überstanden und ist bei Bewusstsein.«
    »Wird sie durchkommen?«
    »Sie hat eine Kugel in den Oberschenkel bekommen und eine Menge Blut verloren, aber sie wird sich wieder erholen. Sie scheint mir ganz schön zäh zu sein.«
    »Da könnten wir alle uns eine Scheibe abschneiden.«
    In der Auffahrt schien ihnen die helle Morgensonne ins Gesicht. Tam zog eine Sonnenbrille aus der Tasche und setzte sie auf. »Vielleicht sollte ich rasch ins Krankenhaus fahren und ihre Aussage aufnehmen?«, schlug er vor.
    »Später. Im Moment brauche ich Sie hier. Die Kollegen von Brookline haben uns um Unterstützung gebeten, also werden wir noch viel Zeit auf diesem Anwesen verbringen.«
    »Dann bleibe ich also im Team?«
    Sie sah ihn an und musste die müden Augen zusammenkneifen, als die grelle Sonne sie blendete. »Ja, ich werde Ihren Vorgesetzten beim Distrikt A-1 bitten, Sie uns zu überlassen, bis wir diese Sache abgeschlossen haben. Das heißt, falls Sie beim Morddezernat bleiben möchten.«
    »Danke. Das würde ich sehr gerne«, erwiderte er schlicht. Als er sich zum Gehen wandte, bemerkte sie plötzlich ein helles Glitzern an seinem Hinterkopf. Einen einzelnen Faden, der sich von seinem pechschwarzen Haar abhob wie Glitter. Ein silbernes Haar.
    »Tam?«, sagte sie.
    Er drehte sich um. »Ja?«
    Einen Moment lang starrte sie ihn nur an. Sie hätte gerne in seinen Augen gelesen, doch in den Gläsern seiner Sonnenbrille sah sie nur ihr eigenes Spiegelbild. Sie erinnerte sich daran, wie gewandt und lautlos er durch Ingersolls Fenster eingestiegen war. An die Bilder der Überwachungskamera in der Knapp Street, die sowohl sie als auch Frost gezeigt hatten, wie sie unbeholfen durchs Fenster auf die Feuertreppe hinauspurzelten, nicht aber Tam. Vielleicht bin ich ja ein Geist , hatte er damals gewitzelt. Kein Geist, dachte sie, aber mindestens ebenso schwer zu fassen. Jemand, der in jeder Phase der Ermittlungen dabei gewesen war; der wusste, was alles besprochen und geplant worden war. Sie konnte seine Miene nicht sehen, konnte seine Geheimnisse nicht ausforschen, doch sie wusste, dass sie dort waren und ihrer Aufdeckung harrten. Und sie beschloss, nicht weiter in ihn zu dringen.
    Vorläufig.
    »Haben Sie noch eine Frage, Rizzoli?«
    »Ach, vergessen Sie’s«, sagte sie. Dann drehte sie sich um und ging davon.
    Im J. P. Doyle’s war gerade Happy Hour, und in der Bar drängten sich so viele Kollegen, die gerade ihren Feierabend begossen, dass Jane Mühe hatte, Korsak zu entdecken. Erst als die Bedienung sie in den Restaurantbereich verwiesen hatte, fand sie ihn endlich – er saß allein in einer Nische vor einem Teller mit frittierten Meeresfrüchten und einem Bier.
    »Tut mir leid, dass ich mich verspätet habe«, sagte sie. »Alles klar?
    »Ist hoffentlich okay, dass ich schon bestellt habe.«
    Sie betrachtete den Berg von fettigen Garnelen. »Hast wohl deine Diät aufgegeben, wie?«
    »Halt mir keine Predigten, okay? Ich hatte ’nen beschissenen Tag, und ich brauche mein Trostessen,

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