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Grabesstille

Grabesstille

Titel: Grabesstille Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tess Gerritsen
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Soll das etwa heißen, dass sie mehr als den einen geschickt hat?«
    »Es gab noch andere. Sämtliche Angehörigen der Opfer aus dem Red Phoenix haben solche Post bekommen. Ähnlich wie der Brief, den Mr. Donohue erhalten hat.«
    Der Anwalt schien verwirrt. »Das ergibt keinen Sinn. Warum sollte Mrs. Gilmore andere Leute mit diesen Briefen schikanieren?«
    »Vielleicht kommen sie ja gar nicht von ihr«, sagte Jane.
    Der Anwalt und Donohue wechselten einen Blick. »Wir müssen die Sache noch einmal überdenken«, sagte der Anwalt. »Ganz offensichtlich geht hier noch etwas ganz anderes vor sich. Wenn Mary Gilmore nicht dahintersteckt …«
    Donohues Finger formten sich zu zwei fleischigen Fäusten. »Dann will ich verdammt noch mal wissen, wer es ist.«

22
    Maura erwachte bald nach der Morgendämmerung und stellte erfreut fest, dass die Sonne schien. Sie würde dem Jungen Pfannkuchen und Würstchen zum Frühstück machen, und dann würde sie ihm Boston zeigen. Als Erstes standen der Freedom Trail und das North End auf dem Programm; anschließend würden sie in der Blue Hill Reservation picknicken und mit dem Hund laufen. Sie hatte den Tag so mit Aktivitäten vollgestopft, dass kaum Zeit für Momente des verlegenen Schweigens bleiben würde für all das, was sie daran erinnerte, wie fremd sie einander immer noch waren. Vor sechs Monaten hatte sie Julian Perkins, genannt »Rat«, in den Bergen von Wyoming ihr Leben anvertraut. Jetzt musste sie sich eingestehen, dass ihr dieser hünenhafte Teenager mit den riesigen Füßen nach wie vor ein Rätsel war. Sie fragte sich, ob es ihm mit ihr ähnlich ging. Hatte er Sorge, dass sie ihn im Stich lassen würde, wie es all die anderen Menschen in seinem Leben getan hatten?
    Sie zog eine Jeans und ein T-Shirt an, das passende Outfit, wenn man vorhatte, mit einem Hund herumzutollen. Dabei dachte sie an die Sandwiches mit Avocado und Huhn, die sie machen wollte, und fragte sich, ob Rat wohl Avocados mochte. Hatte er überhaupt je Avocados oder Luzernensprossen oder Estragon probiert? Ich weiß so wenig über ihn, dachte sie. Aber er ist nun mal hier, und er ist ein Teil meines Lebens.
    Sie ging den Flur entlang und sah, dass seine Schlafzimmertür offen stand. »Rat?«, sagte sie. Sie warf einen Blick ins Zimmer, doch er war nicht da.
    Schließlich fand sie ihn in der Küche, wo er vor dem Laptop saß, den sie am Abend zuvor auf dem Tisch hatte stehen lassen. Der Hund lag zu seinen Füßen und stellte die Ohren auf, als er Maura kommen sah, als ob er dachte: Endlich jemand, der mich beachtet. Als sie dem Jungen über die Schulter schaute, erblickte sie zu ihrem Entsetzen ein Obduktionsfoto auf dem Monitor.
    »Schau dir das nicht an«, sagte sie. »Ich hätte das alles gestern Abend wegräumen sollen.« Sie drückte eine Taste, und das Leichenfoto verschwand. Dann raffte sie hastig die ganzen Red-Phoenix-Unterlagen zusammen und legte sie auf die Arbeitsplatte. »Wie wär’s, wenn du mir hilfst, das Frühstück zu machen?«
    »Warum hat er es getan?«, fragte der Junge. »Warum sollte einer Menschen umbringen, die er überhaupt nicht kennt?«
    Maura blickte in seine verstörten Augen. »Hast du den Polizeibericht gelesen?«
    »Er lag auf dem Tisch, und da hab ich einfach reinschauen müssen. Aber ich kapier das echt nicht. Warum jemand so was tun sollte.«
    Sie zog sich einen Stuhl heran und setzte sich ihm gegenüber. »Manchmal lässt sich so etwas einfach nicht erklären, Rat. Es tut mir leid, das sagen zu müssen, aber allzu oft habe ich nicht die geringste Ahnung, warum Menschen so etwas tun. Warum sie ihre Babys ertränken, ihre Frauen erdrosseln oder ihre Kollegen erschießen. Ich sehe die Ergebnisse ihres Tuns, aber ich kann dir nicht sagen, was ihre Taten auslöst. Ich weiß nur, dass es eben passiert. Und dass Menschen zu schrecklichen Dingen fähig sind.«
    »Ich weiß«, murmelte er und sah auf den Hund hinunter, der seinen mächtigen Kopf in Rats Schoß bettete, als wüsste er, dass der Junge in diesem Moment Trost brauchte. »Und das ist also Ihr Job?«
    »Ja.«
    »Macht Ihnen Ihre Arbeit Spaß?«
    »Ich denke, Spaß ist nicht das richtige Wort.«
    »Was ist denn das passende Wort?«
    »Die Arbeit ist herausfordernd. Interessant.«
    »Und es macht Ihnen nichts aus, solche Sachen zu sehen?«
    »Irgendjemand muss für die Toten sprechen. Und ich kann dieser Jemand sein. Sie – also ihre Körper – verraten mir, wie sie gestorben sind. Ob es ein natürlicher oder ein

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