Grabesstille
Weimin anschaute, sah er in Wahrheit sich selbst.
»Also gut«, räumte sie ein. »Nehmen wir vorläufig einmal an, dass er sich nicht umgebracht hat. Sagen wir, das Ganze war nur so inszeniert, dass es wie ein Selbstmord aussah. Das bedeutet, dass jemand anderes diese vier anderen Menschen erschossen haben muss und anschließend den Koch.«
Rat nickte.
»Denk mal darüber nach. Stell dir vor, du bist der Koch. Du stehst in der Küche, und dann fängt jemand im Nebenraum an, um sich zu schießen. Die Waffe hatte keinen Schalldämpfer, also musst du die Schüsse hören.«
»Und wie kommt es dann, dass niemand sonst sie gehört hat? Im Bericht steht, dass in den drei Wohnungen über dem Restaurant Leute waren, aber die haben alle nur einen Schuss gehört. Deswegen hat zunächst niemand die Polizei gerufen. Dann ist die Frau des Kochs nach unten gegangen und hat die Leiche ihres Mannes gefunden.«
»Wie viel von diesen Unterlagen hast du gelesen?«
»Das meiste.«
»Was ich von mir nicht behaupten kann«, gab sie zu. Sie schlug den Bericht auf, den Staines und Ingersoll eingereicht hatten. Als Detective Tam ihr die Unterlagen gebracht hatte, war sie über die zusätzliche Arbeit nicht gerade begeistert gewesen. Sie hatte sie bis zum gestrigen Abend vor sich hergeschoben, und auch dann hatte sie nur einen flüchtigen Blick auf die Fotos geworfen. Jetzt las sie den Polizeibericht von Anfang bis Ende durch und fand bestätigt, was Rat ihr gerade gesagt hatte. Sieben verschiedene Zeugen hatten angegeben, nur einen Schuss gehört zu haben, und dennoch waren im Red Phoenix insgesamt neun Patronenhülsen gefunden worden.
Ihr sechster Sinn begann sich zu melden. Dieses kribbelnde Gefühl, dass irgendetwas nicht stimmen konnte, genau, wie der Junge es gesagt hatte.
Sie nahm sich Wu Weimins Obduktionsbericht vor. Laut Aussage des Rechtsmediziners war der Koch auf der Seite liegend gefunden worden, mit dem Rücken an der geschlossenen Kellertür. Von seiner rechten Hand, die noch die Waffe hielt, war später ein Abstrich genommen worden, der einen positiven Befund für Schmauchspuren ergab. Sie hatte schon wieder völlig vergessen, dass Rat zusah, als sie sich durch die Obduktionsfotos des Kochs klickte. Die tödliche Kugel war in die rechte Schläfe abgefeuert worden, und eine Detailaufnahme zeigte, dass es sich um einen absoluten Nahschuss handelte: Die Wundränder waren durch die Pulvergase ringförmig versengt und geschwärzt. Es gab keine Austrittswunde. Sie klickte die Röntgenaufnahme des Kopfs an und sah winzige Metallsplitter, die sich im ganzen Schädel verstreut hatten. Ein Hohlspitzgeschoss, dachte sie; so konstruiert, dass es sich beim Aufprall pilzförmig weitete und die kinetische Energie direkt in das Gewebe gelenkt wurde. Maximale Zerstörungswirkung bei minimaler Durchschlagskraft.
Sie wandte sich den anderen Akten zu.
Der zweite Obduktionsbericht betraf James Fang, 37, der zusammengesunken hinter der Kassentheke gefunden worden war. Er hatte eine Kugel in den Kopf bekommen, die über der linken Augenbraue eingetreten war.
Der dritte Bericht war der zu Joey Gilmore, 25, der inmitten von Essenskartons vor der Theke gelegen hatte. Er war durch einen Schuss in den Hinterkopf getötet worden.
Die beiden letzten Opfer waren Arthur und Dina Mallory; beide hatte man an dem Ecktisch gefunden, an dem sie gesessen hatten. Arthur war von zwei Schüssen in den Hinterkopf und in die Wirbelsäule getroffen worden. Seine Frau wies drei Schussverletzungen auf: in der Wange, im Rücken und im Schädel. Maura überflog die Seite, bis sie die Zusammenfassung des Rechtsmediziners fand, und sie sah, dass er zu dem gleichen Schluss gekommen war wie sie: Dina Mallory hatte sich bewegt, als sie von den beiden ersten Schüssen getroffen worden war; wahrscheinlich hatte sie vor dem Schützen zu fliehen versucht. Maura wollte den Bericht soeben zur Seite legen, als ihr ein Satz ins Auge fiel, der die Sektion des Magens und des Zwölffingerdarms beschrieb.
Aufgrund des Volumens des Mageninhalts, bei dem es sich um Spaghettistücke und eine Soße auf Tomatenbasis zu handeln scheint, ist davon auszugehen, dass die letzte Mahlzeit 1–2 Stunden zurücklag.
Maura schlug Arthur Mallorys Obduktionsbericht auf und überflog ihn, bis sie auf die Magenuntersuchung stieß. Das Organ war, wie bei der Leichenschau üblich, eröffnet und der Inhalt aufgefangen worden.
Mageninhalt scheint aus Käse und Fleisch zu bestehen, mit teilweise
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