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Grabesstille

Grabesstille

Titel: Grabesstille Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tess Gerritsen
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gewaltsamer Tod war. Ja, es kann manchmal schlimm sein. So schlimm, dass man sich fragt, was es überhaupt bedeutet, ein Mensch zu sein, wenn man sieht, was Menschen einander antun. Aber das ist nun mal die Arbeit, zu der ich mich schon immer berufen gefühlt habe – den Toten eine Stimme zu geben.«
    »Meinen Sie, ich könnte das auch?« Er betrachtete den Aktenstapel auf dem Tisch. »Die Arbeit, die Sie machen?«
    »Du willst Rechtsmediziner werden?«
    »Ich will auch die Antworten kennen.« Er sah sie an. »Ich will so sein wie Sie.«
    »Also, das«, erwiderte sie mit einem Lächeln, »ist das größte Kompliment, das ich je gehört habe.«
    »Meine Lehrer in Evensong sagen, ich bin wirklich gut darin, Dinge zu bemerken, die andere übersehen. Also denke ich schon, dass ich es schaffen könnte.«
    »Wenn du Rechtsmediziner werden willst«, sagte sie, »musst du in der Schule sehr gute Noten haben.«
    »Ich weiß.«
    »Du musst aufs College gehen und anschließend vier Jahre lang Medizin studieren. Danach musst du eine Assistenzzeit absolvieren und dazu noch eine Spezialausbildung in forensischer Pathologie. Das ist eine lange Zeit, und es verlangt eine Menge Disziplin, Rat.«
    »Wollen Sie damit sagen, dass ich das nicht schaffen kann?«
    »Ich sage nur, dass du es wirklich wollen musst.« Sie sah in die dunklen Augen des Jungen und glaubte, etwas von dem Mann zu erkennen, zu dem er einmal heranwachsen würde. Entschlossen und von unbedingter Loyalität. Ein Mann, der nicht nur für die Toten sprechen, sondern auch für sie kämpfen würde. »Du brauchst eine wissenschaftliche Ausbildung, denn nur mit wissenschaftlichen Argumenten kannst du deinen Standpunkt im Zeugenstand vertreten. Mit Bauchgefühl kommst du da nicht weit.«
    »Und was ist, wenn das Bauchgefühl wirklich stark ist?«
    »Es ist niemals so überzeugend wie das, was ein Tropfen Blut dir verraten kann.«
    »Aber das Bauchgefühl sagt einem, wenn etwas nicht stimmt. Wie auf diesem Foto.«
    »Welches Foto?«
    »Das von dem Chinesen, der sich umgebracht hat. Ich zeig’s Ihnen.« Er stand auf, um den Laptop und die Akten wieder an den Tisch zu holen. Mit wenigen Mausklicks rief er noch einmal die Digitalaufnahme von Wu Weimins Leiche auf, die in der Küche des Red Phoenix lag. »Die Polizei sagt, er hätte sich mit einem einzigen Kopfschuss getötet.«
    »Ja.«
    »Schauen Sie mal, was da neben ihm am Boden liegt.«
    Am Abend zuvor hatte sie die Bilder nur flüchtig betrachtet. Es war schon spät gewesen, sie hatte einen langen Tag mit dem Jungen hinter sich, und nach dem zweiten Glas Wein waren ihr die Augen zugefallen. Jetzt nahm sie die Leiche des Kochs genauer in Augenschein, ebenso wie die Waffe, die er noch in der Hand hielt. Neben seiner Schulter lag eine leere Patronenhülse.
    Rat zeigte auf das Detail, das sie übersehen hatte, ganz am Rand des Bildes. Eine zweite Hülse. »Da steht, er hätte eine Kugel im Kopf gehabt«, sagte Rat. »Aber wenn er zweimal geschossen hat, wo ist dann die andere Kugel geblieben?«
    »Sie könnte irgendwo in der Küche gelandet sein. Unter den vorliegenden Umständen sah die Polizei wahrscheinlich keine Veranlassung, danach zu suchen.«
    »Und warum hat er zweimal geschossen?«
    »Das habe ich schon öfter bei Selbstmördern erlebt. Sie müssen all ihren Mut zusammennehmen, um sich zu töten, und schießen beim ersten Mal vielleicht daneben. Oder die Pistole hat Ladehemmung. Ich habe sogar schon einen Selbstmörder gesehen, der sich mehr als zweimal in den Kopf geschossen hatte. Und einen anderen, der sich mit seiner nicht-dominanten Hand erschossen hatte. Und da war dieser eine Mann, der …« Sie hielt inne, plötzlich erschrocken über sich selbst, weil sie ein solches Gespräch mit einem sechzehnjährigen Jungen führte. Aber er sah sie nur vollkommen ruhig an, als wären sie Kollegen bei einer Fachtagung.
    »Es ist auf jeden Fall ein berechtigter Einwand«, sagte sie. »Ich bin sicher, dass die Polizei das berücksichtigt hat.«
    »Aber es hat sie nicht von ihrer Meinung abgebracht. Sie behaupten immer noch, er hätte diese vier Leute umgebracht, obwohl sie nicht erklären können, wieso.«
    »Wie sollten sie das? Wo nur so wenige Menschen den Koch wirklich gekannt haben.«
    »So, wie mich niemand wirklich gekannt hat«, sagte er leise.
    Jetzt begriff sie, was den Jungen so beschäftigte. Auch ihn hatte man einen Mörder genannt; auch er war von Menschen verurteilt worden, die ihn kaum kannten. Wenn Rat Wu

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