Grabesstille
verdauten Blattsalatresten. Zeit nach Einnahme der letzten Mahlzeit wird auf 1–2 Stunden geschätzt.
Das ergab keinen Sinn. Wieso sollten die Mallorys wenige Stunden, nachdem sie allem Anschein nach italienisch gegessen hatten, in einem chinesischen Restaurant sitzen?
Die Beschreibung des Mageninhalts, mit dem halb verdauten Blattsalat und der Tomatensoße, hatte ihr den Appetit verdorben. »Das ist keine Art, ein Frühstück zu beginnen«, sagte sie, indem sie die Akte zuklappte. »Es ist ein wunderschöner Tag, und ich mache uns jetzt Pfannkuchen, was sagst du dazu? Lass uns nicht mehr an diese Sache denken.«
»Und was ist mit der fehlenden Kugel?«, fragte Rat.
»Selbst wenn wir sie jetzt noch finden könnten, würde es an den Schlussfolgerungen nichts ändern. Die Leichen sind längst beerdigt oder verbrannt, und der Tatort wurde gereinigt. Um einen Fall wieder aufzunehmen, braucht man neue gerichtsverwertbare Spuren. Nach so vielen Jahren dürfte nichts mehr übrig sein.«
»Aber irgendetwas stimmt doch an der ganzen Sache nicht, oder? Das denken Sie doch auch.«
»Okay.« Sie seufzte. »Nehmen wir einmal an, dass der Koch sich nicht umgebracht hat. Nehmen wir an, dass jemand anderes, eine unbekannte Person, das Restaurant betreten und das Feuer eröffnet hat. Warum ist der Koch nicht einfach davongelaufen?«
»Vielleicht konnte er nicht raus.«
»Die Küche hat einen zweiten Ausgang. Im Bericht heißt es, dass die Tür auf eine Gasse führt.«
»Vielleicht war die Tür von außen abgeschlossen.«
Sie öffnete die Tatortfotos auf ihrem Laptop. Es war absolut unangemessen, den Jungen diese Bilder sehen zu lassen, doch er hatte gute Fragen gestellt, und bisher schien ihn nichts von dem, was er gesehen und gehört hatte, aus der Fassung gebracht zu haben. »Hier«, sagte sie und deutete auf den Hinterausgang. »Es sieht so aus, als sei die Tür nur angelehnt. Es gibt also keinen Grund, warum er nicht hätte davonlaufen sollen. Jeder vernünftige Mensch wäre durch diese Küchentür geflohen, wenn er aus dem Restaurant Schüsse gehört hätte.«
»Was ist mit der Tür da?« Er zeigte auf die Kellertür, die von der Leiche des Kochs versperrt wurde. »Vielleicht wollte er sich da unten verstecken.«
»Der Keller hat keinen Ausgang. Es wäre nicht sinnvoll, in diese Richtung zu fliehen. Schau dir doch die gesamte Spurenlage an, Rat. Er wird mit der Pistole in der Hand gefunden. An seiner Hand sind Schmauchspuren, was bedeutet, dass er in Kontakt mit der Waffe war, als sie abgefeuert wurde.« Sie hielt inne, als ihr die zweite Patronenhülse wieder einfiel. Die Pistole war in der Küche zweimal abgefeuert worden, doch die Zeugen hatten nur einen Schuss gehört. Und die Glock hatte einen Gewindelauf, konnte also mit einem Schalldämpfer versehen werden. Sie versuchte, sich eine andere Abfolge der Ereignisse vorzustellen. Ein unbekannter Täter erschießt kaltblütig Wu Weimin. Er schraubt den Schalldämpfer ab und legt die Waffe in die Hand des Toten. Feuert sie noch einmal ab, um Schmauchspuren auf der Haut des Opfers zu hinterlassen. Das würde erklären, warum nur ein Schuss zu hören gewesen war und warum zwei Patronenhülsen in der Küche lagen. Aber es gab da ein Detail, das sie mit diesem Szenario nicht erklären konnte: warum Wu Weimin, obwohl er die Gelegenheit gehabt hätte, durch den Hinterausgang zu fliehen, freiwillig in der Küche geblieben war.
Ihr Blick fiel auf die Kellertür. Auf die Leiche des Kochs, die davor lag und sie versperrte. Plötzlich dachte sie: Vielleicht konnte er ja nicht fliehen.
Weil er einen sehr guten Grund hatte zu bleiben.
23
»Das Luminol wird wahrscheinlich die ganze Bude aufleuchten lassen wie einen Weihnachtsbaum«, meinte Jane. »Der Makler sagt, nach dem Massaker hätten sie lediglich die Wände abgewaschen und den Boden gewischt. Das Linoleum wurde nie erneuert. Ich bin mir also nicht so sicher, was diese Aktion beweisen soll.«
»Das werden wir erst wissen, wenn wir es uns anschauen, oder?«, erwiderte Maura.
Sie standen vor dem ehemaligen Red Phoenix und warteten auf die Spurensicherung. Für die Untersuchung der Innenräume musste es völlig dunkel sein, und die Abenddämmerung ging gerade erst in die Nacht über. Die feuchte Kälte, die zugleich aufkam, ließ Maura wünschen, sie hätte mehr als nur ihre Regenjacke mitgenommen. Am anderen Ende der Knapp Street leuchtete eine Lampe, doch hier war alles finster, und das Gebäude mit seinen vergitterten
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