Grabesstille
Chinatown. Aber ist Ihnen nicht auch schon aufgefallen, dass manche Menschen geradezu vom Pech verfolgt werden? Sie verlieren ihren Ehepartner und ihre Arbeit und bekommen dann auch noch Krebs, alles im selben Jahr. So ein Mensch war Charlotte, immer trübsinnig, immer vom Unglück verfolgt. Das mag ein Grund sein, weshalb sie offenbar kaum Freunde hatte.«
Das war so ganz und gar nicht der Eindruck, den Jane nach dem Gespräch mit Patrick von Charlotte gewonnen hatte. Es überraschte sie, von dieser Seite ihres Charakters zu hören.
»Laut Schuljahrbuch scheint sie aber eine gesunde Mischung von Interessen gehabt zu haben«, sagte Jane. »Musik zum Beispiel.«
Mrs. Forsyth nickte. »Sie war eine ganz ordentliche Bratschistin, aber ich hatte nie den Eindruck, dass sie mit dem Herzen bei der Sache war. Erst in der neunten Klasse war sie so weit, dass sie das Vorspielen für den Workshop des Boston Summer Orchestra bestand. Aber es half ihr, dass sie Bratsche spielte. Bratschen sind immer gefragt.«
»Wie viele Schüler haben an diesem Workshop teilgenommen?«
»Das waren jedes Jahr einige von hier. Es ist der beste Workshop in ganz Neuengland, geleitet von Mitgliedern des Bostoner Symphonieorchesters. Ein sehr erlesener Kreis.« Mrs. Forsyth machte eine Pause. »Ich weiß, wonach Sie als Nächstes fragen werden. Nach diesem chinesischen Mädchen, das auch verschwunden ist, nicht wahr?«
Jane nickte. »Sie haben meine Gedanken gelesen. Ihr Name war Laura Fang.«
»Sie soll ja ein talentiertes Mädchen gewesen sein. Das habe ich gehört, nachdem sie verschwunden war. Einige meiner Schüler waren mit ihr zusammen beim Workshop.«
»Aber nicht Charlotte?«
»Nein. Charlotte bestand das Vorspielen erst im Jahr nach Lauras Verschwinden, also können sie sich dort nicht begegnet sein – um die nächste Frage zu beantworten, die Sie mir sicher gestellt hätten.«
»Sie erinnern sich noch an all diese Einzelheiten, obwohl es schon neunzehn Jahre her ist?«
»Ja, weil ich erst kürzlich wieder mit diesem Detective darüber gesprochen habe.«
»Mit welchem Detective?«
»An seinen Namen kann ich mich nicht erinnern. Es ist ein paar Wochen her. Da müsste ich in meinem Terminkalender nachsehen.«
»Ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie das jetzt gleich tun könnten.«
Verärgerung blitzte in den Augen der Frau auf, als wäre ihr diese Mühe schon zu viel. Dennoch ging sie zu ihrem Schreibtisch und kramte dort in einer Schublade, bis sie den Terminkalender gefunden hatte. Sie blätterte darin und nickte. »Hier. Er rief mich am zweiten April an, um einen Termin zu vereinbaren. Ich fand, dass er für einen Detective ein bisschen alt aussah, aber Erfahrung ist in diesem Beruf wohl auch etwas wert.«
Ein bisschen alt. Und er hatte Fragen über vermisste Mädchen gestellt. »War sein Name Ingersoll?«
Mrs. Forsyth blickte auf. »Sie kennen ihn also.«
»Haben Sie denn nicht in den Nachrichten davon gehört? Detective Ingersoll ist tot. Er wurde letzte Woche erschossen.«
Der Terminkalender fiel Mrs. Forsyth aus der Hand und klatschte auf ihren Schreibtisch. »Mein Gott. Nein, das habe ich nicht gewusst.«
»Warum war er hier, Mrs. Forsyth? Warum hat er nach Charlotte gefragt?«
»Meine Vermutung war, dass ihr Vater Druck gemacht hatte, weil er immer noch auf Antworten hoffte. Ich habe es Mark Mallory gegenüber erwähnt, bei dem Empfang für die Ehemaligen vor ein paar Wochen, aber er wusste nichts davon.«
»Haben Sie Mr. Dion selbst gefragt?«
Sie errötete. »Die Bolton Academy vermeidet jeglichen Kontakt mit Mr. Dion. Um … keine alten Ressentiments aufzuwühlen.«
»Erzählen Sie mir ganz genau, was Detective Ingersoll zu Ihnen gesagt hat.«
Die Frau sank auf den Stuhl hinter ihrem Schreibtisch. Plötzlich wirkte sie kleiner und längst nicht mehr so einschüchternd, offensichtlich geschockt über diesen Einbruch der brutalen Wirklichkeit da draußen in ihren Elfenbeinturm aus Büchern und Partituren. »Entschuldigen Sie, ich muss einen Moment nachdenken …« Sie schluckte. »Er hat eigentlich gar nicht so viel nach Charlotte gefragt. Mehr nach dem anderen Mädchen.«
»Laura Fang.«
»Unter anderem.«
»Unter anderem?«
»Er hatte eine Liste. Eine lange Liste mit vielleicht einem Dutzend Namen. Er fragte mich, ob ich welche davon kenne. Ob ehemalige Schülerinnen von Bolton darunter seien. Ich verneinte.«
»Erinnern Sie sich an irgendwelche Namen von dieser Liste?«
»Nein. Wie gesagt, ich kannte
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