Grabesstille
Bildausschnitt verschwunden, und nur noch ihr Rücken war zu sehen, ihr Rock ein verschwommener schwarzer Fleck. Ein weiteres Klicken des Verschlusses, und von Charlotte war nichts mehr zu sehen, ebenso wenig Mark. Patrick Dion und Barbara Mallory blieben zurück, und ihre Mienen verrieten Verwirrung darüber, dass ihre Kinder die Trauergesellschaft verlassen hatten.
Was lief da zwischen Mark und Charlotte ab? War er ihr gefolgt, um ihr seine Hilfe anzubieten?
Auf dem nächsten Foto beugte sich Patrick linkisch herab, um Barbara zu umarmen – die beiden verlassenen Ehegatten, die einander Trost spendeten. Es war ein kunstvoll komponiertes Bild; die Umarmung spiegelte sich im glänzenden Holz eines der Särge.
Die letzte Aufnahme zeigte, wie die Trauergesellschaft sich auflöste; die meisten wandten dem Doppelgrab bereits den Rücken zu. Vielleicht ein Sinnbild dafür, dass für die Hinterbliebenen das Leben immer weitergeht. Auf diesem letzten Foto war Charlotte erneut zu sehen. Sie ging neben ihrem Vater, und Patrick hatte den Arm fest um ihre Taille gelegt. Aber Charlotte verrenkte den Hals, um einen letzten Blick zurück zum Grab ihrer Mutter zu werfen, und auf ihrem Gesicht lag ein sehnsüchtiger und verzweifelter Ausdruck, als ob sie sich am liebsten auf den Sarg ihrer Mutter geworfen hätte. Der Mutter, die ihre Tochter fünf Jahre zuvor im Stich gelassen hatte.
Jane legte das Foto auf den Tisch, überwältigt von Trauer um Charlottes Schicksal. Sie dachte an ihre eigene Mutter, dachte an die vielen kleinen Dinge, die sie an Angela nervten. Und dennoch zweifelte Jane nicht einen Moment daran, dass ihre Mutter sie liebte und ihr Leben für sie opfern würde, genau wie Jane ohne Zögern ihr eigenes Leben für Regina hingeben würde. Als Dina die Scheidung eingereicht und die Familie verlassen hatte, war Charlotte erst zwölf gewesen, in jenem heiklen Alter am Ende der Kindheit. Zwar hatte sie noch einen Vater, der sie von Herzen liebte, doch gab es Geheimnisse, die ein Mädchen nur von seiner Mutter lernen konnte, die Geheimnisse des Frauseins. Wer war da, um dich in diese Geheimnisse einzuweihen, Charlotte?
Gegen zwölf ging Jane hinunter in die Cafeteria, um sich einen Kaffee und ein Schinkensandwich zu holen. Sie nahm beides mit nach oben und aß und trank an ihrem Schreibtisch; nicht, weil es ihr schmeckte, sondern aus purer Notwendigkeit. Dann wischte sie sich die Mayonnaise von den Fingern und schaltete ihren Computer ein, um sich die Datei mit den Tatortfotos des Ingersoll-Mords anzusehen. Während sie sich durch die Bilder seiner Wohnung klickte und sich an den Geruch der Sträucher erinnerte, die den Gartenweg säumten, an den Schein seines Fernsehapparats, der durch das Fenster fiel, spürte sie, wie ihr Herz lauter pochte. Das war der Abend, an dem ich hätte sterben sollen. Sie atmete tief durch und zwang sich, die Fotos ruhig und mit kritischer Distanz zu studieren. Sie sah sich das Bild der Küche an, wo Ingersoll mit dem Kopf in einer Lache seines eigenen Bluts lag. Klickte weiter zu dem Foto seines Arbeitszimmers, mit den durchwühlten Schubladen, der leeren Stelle auf dem Schreibtisch, wo ein Computer gestanden haben musste. Bei ihrem letzten Telefonat hatte Ingersoll Jane erzählt, dass in seinem Haus eingebrochen worden sei. Dies war das Chaos, das er bei der Rückkehr von seinem Angelausflug vorgefunden hatte – ganz offensichtlich hatte es diesen Einbruch tatsächlich gegeben. Schließlich klickte sie noch ein Foto des Schlafzimmers an, wo Ingersolls geschlossener Koffer noch auf dem Boden stand. Er war nicht einmal mehr zum Auspacken gekommen.
Dann sah sie sich die Fotos seines Ford Taurus an, der vor dem Haus auf der Straße parkte. Im Wagen lagen noch die typischen Hinterlassenschaften einer langen Autofahrt herum: leere Kaffeebecher, eine zusammengeknüllte Fast-Food-Tüte, eine Tageszeitung – die Bangor Daily. An diesem Abend, über und über mit Blut befleckt und aufgewühlt von dem Vorfall in der Gasse, hatte Jane den Wagen nicht selbst durchsucht, sondern Frost und Tam diese Aufgabe überlassen. Frost schrieb in seinem Bericht, dass sie im Handschuhfach eine Quittung von einer Tankstelle in Greenville, Maine, gefunden hatten, die eine Woche zuvor ausgestellt worden war. Das bestätigte die Aussage der Tochter, wonach Ingersoll zu einem Angeltrip in den Norden gefahren war.
Noch einmal ging sie die Fotos durch, klickte eins nach dem anderen an. Wohnzimmer, Esszimmer, Küche,
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