Grabesstille
Fremden entführt worden waren. In Massachusetts waren im gleichen Zeitraum Dutzende von Mädchen verschwunden, Mädchen aus derselben Altersgruppe, die aber nicht auf Ingersolls Liste gelandet waren. Warum hatte er sich auf genau diese drei Opfer konzentriert? Weil sie im gleichen Alter und von ähnlicher Statur waren? Oder weil sie alle an Orten entführt worden waren, die vom Highway 495, dem Autobahnring um den Großraum Boston, leicht zu erreichen waren?
Und dann war da die siebzehnjährige Charlotte Dion. Sie war älter gewesen als die anderen Mädchen und im Gegensatz zu den beiden eine eher schlechte und unmotivierte Schülerin. Wie passte sie in das Muster?
Vielleicht gab es ja kein Muster. Vielleicht hatte Ingersoll nach Verbindungen gesucht, die gar nicht existierten.
Jane schob die Unterlagen zu den drei Mädchen beiseite und wandte sich der Akte über Charlotte zu, die Detective Buckholz angelegt hatte. Sie war wesentlich dicker als die von Laura Fang, und Jane musste annehmen, dass es wegen des Namens Dion war. Geld spielte sehr wohl eine Rolle, auch wenn es um Recht und Gerechtigkeit ging. Oder vielleicht gerade dann. Das Verschwinden eines Kindes verfolgte die Eltern bis an ihr Lebensende, und auch viele Jahre später fragten sie sich vielleicht noch, ob diese junge Frau, die gerade auf der Straße an ihnen vorübergegangen war, ihre verlorene, inzwischen längst erwachsene Tochter sein könnte. Oder war es doch nur eine Fremde wie all die anderen, deren Lächeln, deren Gesichtszüge ihnen einen Sekundenbruchteil lang quälend vertraut vorgekommen waren?
Jane öffnete den Umschlag, der die wahrscheinlich letzten Fotos von Charlotte enthielt. Sie hatten sie aus dem Bildarchiv des Boston Globe bekommen. Es waren ein Dutzend Fotos, aufgenommen bei der gemeinsamen Trauerfeier für Arthur und Dina Mallory. Die schrecklichen Umstände ihres Todes und die ausführliche Berichterstattung in den Medien über das Massaker im Red Phoenix hatten an diesem Tag fast zweihundert Menschen auf den Friedhof gelockt, so der Artikel im Globe , und der Fotograf hatte in mehreren Totalen die dunkel gekleidete Gruppe festgehalten, die an den zwei offenen Gräbern stand.
Doch die fesselndsten Bilder waren die Nahaufnahmen der Familie. Charlotte stand genau in der Mitte, der dramatische Blickpunkt der Komposition – kein Wunder, war sie doch mit ihrem blassen Gesicht, ihrem langen blonden Haar und ihrer grazilen Gestalt geradezu die Verkörperung der Trauer. Sie hatte die Hand zum Mund gehoben, wie um ein Schluchzen zu unterdrücken, und ihre Züge waren verzerrt, fast so, als empfände sie körperliche Schmerzen. Zu ihrer Rechten stand ihr Vater Patrick, der sie mit besorgter Miene beobachtete. Doch sie hielt den Körper von ihm abgewandt, als ob er nicht sehen sollte, wie sie litt.
Am Bildrand stand Mark Mallory. Sein dunkles Haar war damals länger und wirrer gewesen, doch mit seinen zwanzig Jahren hatte er bereits den muskulösen Körperbau und die breiten Schultern eines Mannes. Er stand neben einer hageren Frau mittleren Alters, die im Rollstuhl saß, und hatte ihr die Hand auf die Schulter gelegt. Jane nahm an, dass es sich bei der Frau um Marks Mutter Barbara handelte, Arthurs Exfrau. Barbara saß da und starrte die Särge an, wohl ohne sich bewusst zu sein, dass das Klicken eines Kameraverschlusses für alle Zeiten ihren Gesichtsausdruck festhalten würde – einen Ausdruck nicht etwa der Trauer, sondern einer verstörenden Kälte und Distanziertheit. Als ob der Mann dort in dem Sarg ihr nichts bedeutete. Oder weniger als nichts – schließlich hatte Arthur sie wegen Dina verlassen, und wenngleich Mark behauptete, es habe keinen Groll zwischen seinen Eltern gegeben, erzählte diese Aufnahme von Barbaras Gesicht doch eine ganz andere Geschichte. Hier war die verlassene Frau, an den Gräbern ihres Exmanns und der Frau, die ihn ihr weggenommen hatte. Hatte sie in diesem Moment einen Anflug von Befriedigung empfunden? Einen Hauch von Triumph, weil sie beide überlebt hatte?
Jane nahm sich das nächste Foto vor. Es war aus dem gleichen Blickwinkel aufgenommen, doch hier war Charlottes Gesicht verschwommen, da sie sich noch weiter von ihrem Vater abwandte, ihr ganzer Körper in der Bewegung vornübergebeugt. Auf dem nächsten Bild sah Patrick ihr mit gerunzelter Stirn nach, während sie weiterging, die Hand immer noch an den Mund gepresst, das Gesicht verzerrt. In der nächsten Aufnahme war sie schon fast aus dem
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