Grabesstille
abgegeben und diesen erklärt hatte, dass er sich aus dem Anwaltsberuf zurückzöge.
Es war bereits allgemein bekannt, dass ihn ein Richter aufgrund der Verletzung, die ihm von seinem Klienten zugefügt worden war, von der Last befreit hatte, Nick Parrish zu verteidigen. Mr. Parrish würde ein neuer Anwalt zugewiesen werden, wenn und falls er je wieder gefasst werden sollte. Aber niemand hatte damit gerechnet, dass Newly seine lukrative Anwaltskanzlei so plötzlich und endgültig aufgeben würde.
Ich wusste Newlys Privatnummer nicht, aber Frank hatte ihn an dieser Adresse abgesetzt.
Gerade als ich mich fragte, ob Jo Robinson meine Bemühungen anerkennen würde, wenn Phil sich weigerte, mich zu empfangen, öffnete er die Tür.
»Irene«, sagte er. »Was für eine nette Überraschung.«
Es musste auf Unterricht in gutem Benehmen von frühester Kindheit an zurückgehen, dass er das Wort »nett« gebrauchte. Er war eindeutig alles andere als froh, mich zu sehen. Nervös spähte er auf die Straße hinaus und winkte mich herein. Ich ertappte mich dabei, dass ich die Schwelle fast widerwillig überquerte, doch ich trat ein.
Vielleicht spürte er meinen Unwillen, da er ein entschlossenes Lächeln aufsetzte und sagte: »Herein, herein. Ich habe ja so oft an Sie gedacht. Ist das Ihr Van da draußen? Frank hat mich mit einem Volvo vom Krankenhaus abgeholt. Und Sie haben früher einen – sagen Sie nichts – ja! – einen Karmann Ghia gefahren.«
»Stimmt, aber der Karmann Ghia ist nicht mehr«, erwiderte ich. »Der Van gehört meinem Cousin. Er leiht ihn mir, solange er verreist ist. Ich bin immer noch auf der Suche nach einem Auto für mich.«
Sowie ich es ausgesprochen hatte, wurde mir klar, dass ich gelogen hatte. Ich hätte mich schon längst nach einem neuen Auto umsehen sollen, aber wie eine Reihe anderer Dinge in meinem Leben war auch der Autokauf auf unbestimmte Zeit verschoben worden.
Newlys Haus war geräumig. Hätte ich wie er allein darin gelebt, hätte ich mich von seiner Größe vielleicht erschlagen gefühlt. Doch je weiter wir vordrangen, desto mehr machte es mir den Eindruck, als hielte er sich in den meisten Räumen kaum auf. Auf den sorgfältig gesaugten Teppichen sah man fast nirgends Fußspuren.
Er führte mich in den Raum, der ihm offenbar der liebste war, einer Mischung aus Fernsehzimmer und Bibliothek. Mehrere Bücherregale säumten die Wände, dazu kamen eine Stereoanlage und ein Großbildfernseher. Gegenüber dem Fernseher standen neben einem niedrigen Tisch zwei übertrieben gepolsterte Sessel. Die meisten Bücher im Raum waren Taschenbücher, doch in einem Fach standen zahlreiche gebundene Ausgaben – zum größten Teil leichte Unterhaltungsromane. Nirgends ein schwerer Gesetzesband in Sicht.
»Setzen Sie sich«, sagte er und wies auf einen der schweren Sessel. »Darf ich Ihnen etwas zu trinken anbieten?«
»Danke. Ein Glas Wasser wäre schön«, antwortete ich.
»Wasser? Nichts Stärkeres?«
Es war zwei Uhr nachmittags, aber es hätte auch kurz vor der Sperrstunde sein können, und ich hätte dieselbe Antwort gegeben. »Nur Wasser, danke.«
Er verließ das Zimmer, um es zu holen, und ich begann die Gegenstände auf dem niedrigen Tisch zu mustern. Darunter waren sein GPS-Empfänger, ein raffinierter mechanischer Bleistift, ein Lineal, ein paar lose Blätter, auf die verschiedene Zahlen gekritzelt worden waren, ein Taschenrechner und unter mehreren flachen Bücherstapeln eine topographische Landkarte.
Als ich begriff, was für eine Karte es war, wandte ich den Blick ab. Dann, da ich mich über mich selbst ärgerte, zwang ich mich, einen der Bücherstapel hochzuheben und die Legende der Karte zu lesen.
Südliche Sierra. Die Gegend, wo wir nach Julia Sayres Grab gesucht hatten.
Ich hörte, wie Phil zurückkam, und legte die Bücher wieder ab. In diesem Moment fiel mir der Titel eines der gebundenen Bände ganz unten im Stapel ins Auge: Die Seele des Mörders von John Douglas. Ich hatte schon von diesem Buch gehört, einer seriösen Abhandlung über Serienmörder, verfasst von einem Profiler des FBI. In dem Stapel lagen noch weitere Bücher von Douglas und einige von Robert Ressler, einem anderen bahnbrechenden Profiler des FBI. Wenn ich mich recht erinnerte, hatte angeblich Ressler den Begriff »Serienmörder« geprägt.
Die Titel der übrigen Bücher auf dem Tisch konnte ich nur überfliegen, doch das reichte, um zu erkennen, dass sie alle zweierlei gemeinsam hatten: Es waren
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