Grabesstille
auch für Jets verwendet wird. Es ist also leicht, aber belastbar.« Ich nahm seinen mechanischen Bleistift und zeichnete auf einem Zettel eine grobe Skizze.
»Es sieht ein bisschen aus wie – na ja, wie ein Stück von einem anthrazitfarbenen Ski«, sagte ich. »Flach und schmal wie ein Ski, aber viel kürzer – so lang wie ein Fuß und ein Stück Schienbein, in einer Art gebogenen L-Form …« Ich blickte von meinem Kunstwerk auf und erkannte, dass er mir nicht mehr zuhörte. »Tut mir Leid, Phil – in letzter Zeit habe ich mich ziemlich für all das zu interessieren begonnen.«
»Das kann ich verstehen. Und Ben lebt jetzt also allein?«
»Ja, David hat Ben sein Haus vermacht. Ich muss zugeben, dass ich mich ein bisschen um ihn ängstige. Nicht wegen der Verletzung – Ben würde Ihnen schwören, dass er in viel besserer Form ist als vor der Amputation –, sondern weil dort vor ein paar Monaten ein Einbruch stattgefunden hat.«
Sämtliche Farbe wich aus Phil Newlys Gesicht.
41
DIENSTAG NACHMITTAG, 12. SEPTEMBER
Las Piernas
»Alles in Ordnung?«, fragte ich.
»Entschuldigung«, sagte er und erschauderte. »Irgendwie vermute ich inzwischen immer gleich das Schlimmste. Bestimmt hat irgendjemand in der Zeitung gelesen, dass David gestorben ist, und beschlossen, das auszunutzen. Es ist ein trauriger Kommentar zum Lauf der Welt heutzutage, aber es passiert.«
»Phil – kommen Sie mir nicht mit dem ›Lauf der Welt heutzutage‹. Von jemandem in Ihrer Branche höre ich mir das nicht an.«
Er lächelte und sagte dann: »Soweit ich gehört habe, haben Sie auch schon ein- oder zweimal einen Strafverteidiger gebraucht.«
Ich lachte. »Ja, da haben Sie richtig gehört. Man hört auf, Witze über Anwälte zu machen, wenn man selbst festgenommen wird.«
»Wurde aus Davids Haus irgendetwas gestohlen?«
»Nein. Allerdings jetzt, wo Sie es sagen, fällt mir ein, dass die Einbrüche passiert sind, kurz nachdem Davids Name in den ersten Artikeln über – über Parrishs Flucht aufgetaucht ist.«
»Einbrüche? Mehrzahl?«
»Bens Büro war auch betroffen.«
»Hmmm. Und was war mit den anderen Häusern? Hatte irgendjemand sonst ähnlichen Ärger?«
»Nein, nicht dass ich wüsste, aber – ich habe ihre Familien nicht kontaktiert, also weiß ich das nicht.«
»Die Familien!«, stieß er hervor. »Sie müssen mich hassen.«
»Ich hoffe, dass sich jeglicher Hass, den sie empfinden, auf Nick Parrish konzentriert«, sagte ich.
Er verfiel in brütendes Schweigen und sagte dann: »Er ist meine Obsession, wissen Sie.«
»Parrish?«
»Ja. Deshalb habe ich auch all diese Bücher. Es ist nicht gesund, das weiß ich, aber ich ringe immer noch darum, es zu verstehen, herauszufinden, ob da etwas war, das ich früher hätte bemerken müssen, ob es eine Warnung gegeben hat, dass alles so enden würde, wie es geendet hat, etwas, das ich nicht erkannt habe.«
Ich versuchte ihm zu vermitteln, dass es sinnlos war, sich Vorwürfe zu machen, aber schon bald begriff ich, dass ich ihn nicht von seiner Denkweise abbringen würde.
»Hier«, sagte er auf einmal und zog die Landkarte heraus, wobei er achtlos einen Stapel Bücher vom Tisch fegte. »Sehen Sie – ich komme nicht einmal darauf, wo – wo es passiert ist.«
Erneut zwang ich mich, mir seine Karte anzusehen. Ich hatte nicht einmal die studiert, die ich selbst in den Bergen benutzt hatte. Diese hier umfasste ein größeres Gebiet als meine, daher war der Maßstab kleiner. Sie gab einen weiteren Überblick über die Gegend, war aber weniger detailliert.
Newly hatte die Lichtung markiert, wo ihm der Fuß gebrochen worden war. »Das ist die letzte Stelle, die ich auf meinem GPS-Empfänger eingegeben habe«, erklärte er und zeigte hin. Mit dem Finger fuhr er eine kurze Distanz zu einer anderen Markierung. »Hier war die Landebahn.« Er fuhr noch ein Stück weiter zu einem Symbol, das ein bisschen von den anderen beiden entfernt lag. »Und das ist J. C.s Ranger-Station.« Es war ein seltsames Gefühl, jetzt auf die Karte zu sehen. Trotz meines anfänglichen Unbehagens war es einfach der Fingerabdruck der Erde: Windungen, Höhenlinien und Farben, Formen, die sich – wenn man erst einmal begriffen hatte, wie man topographische Karten las – in eine Landschaft aus Höhenzügen und Tälern, steilen und sanften Abhängen, Seen und Flüssen verwandelten.
Ein Blick, der so weit über der Grabstätte schwebte, konnte mir weder etwas anhaben noch mich besonders belasten.
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