Grabesstille
Ich hatte die Gegend ja nicht aus dieser Perspektive gesehen. »Es ist in diesem Gebiet passiert – hier«, sagte ich und benutzte den Bleistift, um die Hügelkette zwischen den beiden Wiesen zu zeigen. »Der Kojotenbaum stand auf dieser Hügelkette.« Ich fuhr mit dem Stift ein kleines Stück weiter. »Julia Sayre lag in einer Wiese auf dieser Seite begraben. Die Wiese kann man auf dieser Karte nicht so genau sehen. Und auf der anderen Seite der Hügelkette hatte er seine Falle aufgebaut.«
Orte. Nur Orte, sagte ich mir.
Phil Newly starrte schweigend auf die Karte hinab.
»Wie viele andere Leichen wurden hier gefunden?«, fragte er schließlich.
»Sie meinen –«
»Nicht die Mitglieder unserer Gruppe, sondern die Begrabenen. Frauen, die Parrish dort begraben hat.«
»Auf der einen Wiese, einschließlich der mit der Sprengladung, zehn. Die anderen lagen alle wesentlich weiter von der Hügelkette entfernt in der Wiese. Und Julia Sayre war als Einzige in der anderen Wiese begraben.«
»Als Einzige?«, fragte er.
»Ja. Sie hat ihm offenbar irgendwie etwas Besonderes bedeutet. Ich habe gehört, er war viel … dass die Dinge, die er ihr angetan hat, viel …«
Während ich noch nach Worten suchte, sagte er: »Ich glaube, ich weiß, was Sie meinen.«
»Ja. Allerdings hat man an den Opfern aus der anderen Wiese Anzeichen dafür gefunden, dass er sich immer mehr gesteigert – falls man es so nennen kann – und seine Opfer zunehmend sadistischer gequält hat.«
»Keines der anderen Opfer war mit Sprengstoff präpariert?«
Es fiel mir schwerer, die Fakten zu schildern, wenn das Wort »Sprengstoff« ins Spiel kam, doch ich schaffte es. »Nein. Die neuen Suchteams sind trotzdem äußerst vorsichtig vorgegangen. Sie hatten Leute vom Bombenräumkommando dabei, die jeden potenziellen Lageplatz überprüft haben. Es hat viel zusätzliche Zeit gekostet, aber es wurden keine weiteren Sprengladungen gefunden.«
»Haben Suchhunde diese anderen Leichen aufgespürt?«
»Manche von ihnen. Sie haben mittlerweile mit allen möglichen Methoden gearbeitet – Luftfotografie, Radar, der durch den Boden dringt – was Sie wollen. Bingle hat starkes Interesse an der ersten Wiese gezeigt, doch das präparierte Grab war das erste, das er entdeckt hat.«
»Warum?«
»Ich glaube, die Antwort darauf hat Ben herausgefunden. Die Frage hat ihn nämlich auch beschäftigt. Also hat er die Plastikfolie untersucht, die um Julia Sayres Leiche gewickelt worden war, sowie einige der übrig gebliebenen Plastikfetzen von der zweiten Toten –«
»Nina Poolman?«
»Ja, beide Identifizierungen wurden später bestätigt.«
»Und was war daran für Ben interessant?«
»In der Plastikfolie fanden sich zwei Arten von Löchern. Einige der Löcher wurden von den Sonden verursacht, die die Anthropologen benutzt haben, aber die anderen stammten von einem anderen Gegenstand. Der Durchmesser und andere Eigenschaften der Löcher waren unterschiedlich.«
»Ich kann Ihnen nicht folgen«, sagte er.
»Wir glauben, dass er es darauf angelegt hatte, gefasst zu werden.«
»Früher oder später, glaube ich –«
»Nein, ich meine wirklich darauf angelegt. Er hat sich erwischen lassen, damit die ganze Welt erfährt, was für ein Genie er ist. Irgendwann vor dem Mord an Kara Lane muss er in die Berge hinaufgezogen sein und Löcher in diese Plastikhüllen gebohrt haben, was zu einer schnelleren Verwesung der Leichen geführt hat. Bis dahin waren die Leichen durch die Plastikfolie geschützt.«
»Und der Verwesungsgeruch drang durch diese Löcher nach außen.«
»Genau. Also waren das die Gräber, die für Bingle am leichtesten zu finden waren.«
»Mein Gott. Und die anderen Frauen? Weiß die Polizei inzwischen, wer sie sind?«
»Er hat die meisten von ihnen mit irgendeiner Art von Identitätsnachweis begraben – meist einem Führerschein –, aber es wird einige Zeit dauern, um festzustellen, ob es wirklich diese Frauen sind. Sie haben zahnärztliche Unterlagen und dergleichen angefordert.«
»Sie können nicht einfach sagen –«
»Nein«, warf ich rasch ein und verdrängte das Bild von Julia Sayres Leiche.
»Tut mir Leid«, sagte Phil. »Ich wollte Sie nicht aufregen.«
»Schon gut«, erwiderte ich und fügte dann hinzu: »Ben hat mir erklärt, dass Führerscheine notorisch ungenaue Informationsquellen für eine Identifizierung sind – Männer machen sich oft größer, als sie wirklich sind, wenn sie einen Führerschein beantragen, und Frauen
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