Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Grabesstille

Grabesstille

Titel: Grabesstille Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jan Burke
Vom Netzwerk:
Sachbücher über Kriminalfälle, und ihr Thema waren Serienmörder.
    »Ich ertappe mich zur Zeit immer wieder dabei, wie ich einer merkwürdigen Faszination erliege«, erklärte Phil, reichte mir ein hohes Glas mit Eiswasser und öffnete eine Flasche Bier, während er in dem anderen Sessel Platz nahm.
    »Ach?«
    »Sie sind doch Reporterin, Irene«, schalt er. »Wenn Sie nicht alles, was auf diesem Tisch liegt, genau in Augenschein genommen haben, bin ich von Ihnen enttäuscht.«
    »Nicht richtig genau«, erwiderte ich. »Und theoretisch bin ich mir nicht sicher, ob ich momentan Reporterin bin.«
    »Was meinen Sie damit? Sind Sie denn nicht gekommen, um mich über meinen berüchtigtsten Klienten zu interviewen?«
    »Nein.« Ich berichtete ihm, was in der Arbeit geschehen war.
    Zu meinem Erstaunen lachte er und sagte: »Wenn Sie doch nur besser auf Ihren Boss gezielt hätten! Aber trotzdem – ach, das ist toll!«
    »Eigentlich nicht.« Ich erklärte ihm, dass ich als Folge davon gezwungen war, Urlaub zu nehmen und eine Therapie zu beginnen.
    »Hmm. Ich weiß, dass Arbeitsrecht und Strafrecht mitunter so wirken, als seien sie natürliche Erweiterungen voneinander, aber da kann ich Ihnen wirklich nicht helfen –«
    »Ich bin nicht gekommen, um Sie als Anwalt zu konsultieren, Phil. Ich weiß schon, dass Sie Ihre Kanzlei schließen.«
    »Das stimmt«, bestätigte er und nahm einen tiefen Schluck aus der Bierflasche.
    »Ein bisschen jung für den Ruhestand, finden Sie nicht?«
    »Ich habe das Geld verdient, das ich brauche. Wahrscheinlich werde ich das Haus hier verkaufen und in die Nähe meiner Schwester ziehen, droben im Norden. Sie hat mich dorthin eingeladen, als ich mir den Fuß gebrochen hatte, und während meines Aufenthalts dort bin ich ein bisschen zum Nachdenken gekommen. So sehr ich den Anwaltsberuf auch liebe – ich glaube, ich habe es satt, meinen Namen mit Leuten wie Nicky Parrish in Verbindung zu bringen.«
    »Nicky?«
    Er schmunzelte. »Die Verkleinerungsform hilft mir, ihn im richtigen Maßstab zu sehen.«
    »Damit hatte ich in letzter Zeit auch Schwierigkeiten. Ich muss mir immer wieder sagen, dass er nicht unbesiegbar ist.«
    Das führte nach und nach zu einem Gespräch über unser Leben seit der Exkursion in die Berge. Erstaunt vernahm ich, dass auch Phil das Gefühl hatte, sein Leben sei seit damals außer Kontrolle geraten. »Es sind die Schuldgefühle«, sagte er. »Die nagen an mir.«
    »Schuldgefühle? Weswegen müssen Sie sich denn schuldig fühlen?«
    »Ich habe mich von ihm zu dem Handel mit dem Staatsanwalt breitschlagen lassen! Wenn ich den Fall so bearbeitet hätte, wie ich es hätte tun sollen, wie ich es bei jedem anderen Klienten getan hätte –«
    »Dann hätte er Sie gefeuert«, sagte ich.
    »Das sage ich mir ja auch, aber sehen Sie sich doch an, was stattdessen passiert ist! Wenn ich an diese Männer denke – wenn ich an ihre Familien denke und an Sie – und an Ben Sheridan! Mein Gott, Ben!«
    »Ben geht es sehr gut«, sagte ich.
    »Ich habe gerüchteweise gehört, dass er bei Ihnen und Frank wohnt.«
    »Hat er. Aber jetzt ist er in seinem eigenen Haus und arbeitet wieder.«
    »Jetzt schon? Da hat er ja erstaunliche Fortschritte gemacht.«
    Ich erzählte ihm die heitere Version von Bens Genesung. Aufgrund einer unausgesprochenen Abmachung war das diejenige, die Ben, Frank, Jack und ich an Dritte weitergaben. Es war ganz offenkundig diejenige, die Ben Außenstehende glauben machen wollte.
    Ich verstand diese Einstellung. Ben hatte keine Lust, sich als Opfer zu sehen. »Bitte lassen Sie sämtliche Mitleidssendungen ungeöffnet und schreiben Sie ›Zurück an Absender‹ darauf«, hatte er einmal zu mir gesagt.
    »Er ist also bereits auf den Beinen und geht?«, fragte mich Phil Newly jetzt.
    »Sie haben ihn seit dem ersten Tag nach der Operation aufstehen lassen. Sobald die Wunde weit genug geheilt war, hat er trainiert, wieder laufen zu lernen. Es war nicht immer leicht, und es sind hier und da Probleme aufgetreten, aber im Großen und Ganzen hat er kontinuierliche Fortschritte gemacht. Seit einiger Zeit ist er aus gutem Grund recht zufrieden mit sich selbst. Und er hat diesen erstaunlichen neuen Fuß. Es ist ein Flex-Foot Re-Flex VSP.«
    »Ein was?«
    »Ein Flex-Foot. So heißt seine Prothese. Von einem Amputierten entworfen. Ben liebt sie. Seit er sie hat, ist er wesentlich beweglicher. Es ist so ein Hightech-Fuß aus einem Graphitfaser-Verbundstoff – das gleiche Material, das

Weitere Kostenlose Bücher