Grabesstille
Vielleicht führt das zu der Konzentrationsschwäche.«
»Ist es Ihnen schwer gefallen, sich zu konzentrieren, bevor Sie in die Berge gegangen sind?«
»Eigentlich nicht.«
»Schlafstörungen?«
Ich zögerte. »Manchmal. Nicht oft.«
Sie wartete.
»Wenn ich unter starkem Stress stehe, habe ich manchmal Albträume.« In wenigen Worten schilderte ich ihr, wie ich einmal in einem engen, dunklen Raum in einer Hütte gefangen gehalten wurde und von der Angst und den Verletzungen, die ich dort erlitt, sowie von den gelegentlichen Albträumen und der Klaustrophobie, die mich seither plagen. Nur wenige Menschen wissen Näheres über dieses Erlebnis. Ich spreche normalerweise nicht besonders gern darüber, ertappte mich aber bei dem Gedanken, dass sie, wenn ich sie vielleicht dafür interessieren konnte, nicht nach Geschehnissen der jüngeren Zeit fragen würde.
Sie stellte mir mehrere Fragen über mein Leben im Allgemeinen. Erneut betrachtete ich dies als sichereres Terrain und entspannte mich dabei, selbst, wenn ich Situationen beschrieb, die zu der Zeit, als sie stattgefunden hatten, traumatisch gewesen waren.
»Sie haben in letzter Zeit eine Menge durchgemacht«, sagte sie.
Ich zuckte mit den Achseln. »Andere haben Schlimmeres durchmachen müssen.«
»Aber Sie haben überlebt. All das und dazu noch das, was im Mai in den –«
»Ich will nicht über die Berge sprechen«, wandte ich rasch ein. »Ich habe es satt, über das zu reden, was dort passiert ist.«
»Okay«, sagte sie. »Dann frage ich Sie zunächst nicht nach diesen Ereignissen.«
Ich fühlte mich unglaublich erleichtert.
»Seit Sie zurück in Las Piernas sind, haben Sie abgesehen von Ben mit jemandem der anderen gesprochen, die zur Gruppe gehörten?«
»Ich dachte, Sie wollten nicht danach fragen.«
»Seit Sie zurück sind«, wiederholte sie gelassen.
»Sie sind tot«, erklärte ich, außerstande, die Gereiztheit aus meiner Stimme zu verdrängen. »Alle außer Ben und Bingle.«
»Alle?«
»Ja. Es sei denn, Sie meinen die ursprüngliche Gruppe, die losgezogen ist?«
»Die meine ich.«
»J. C. ist ein paarmal vorbeigekommen, um Ben zu besuchen. Und Andy auch.«
»Um Ben zu besuchen«, wiederholte sie. »Haben Sie mit den beiden gesprochen?«
Ich zog eine Schulter hoch. »Sie sind gekommen, um ihn aufzuheitern.«
»Also …?«
»Also habe ich nicht mit ihnen gesprochen.«
Nach einer Weile sagte sie: »Es gab noch zwei andere, oder nicht?«
Ich überlegte und antwortete dann: »Da war noch ein Polizist namens Houghton. Er war Thompsons Assistent, könnte man sagen. Frank hat mir erzählt, dass er am neunzehnten Mai den Dienst quittiert hat.«
»An dem Tag, als Sie aus den Bergen zurückkamen. Als alle erfahren haben, was dort passiert ist.«
»Ja. Vielleicht hatte er ein schlechtes Gewissen, weil er nicht dabei gewesen war. Aber das war nicht seine Schuld.«
»Mag sein. Vielleicht hatte er aber auch das Gefühl, Glück gehabt zu haben«, sagte sie. »Manchmal, in einer Schlacht zum Beispiel, kann ein Soldat den Mann neben sich fallen sehen und sich glücklich schätzen, dass es nicht er selbst war. Doch obwohl das eine ganz normale Reaktion ist, bekommt er womöglich später deswegen ein schlechtes Gewissen.«
Ich sagte nichts.
»Mal sehen«, fuhr sie fort. »Es war noch jemand dort oben, stimmt’s? Der Anwalt.«
»Sie meinen Phil Newly?«
»Ja.«
»Ja. Er hat sich für eine Weile abgesetzt.«
»Was glauben Sie, warum er sich abgesetzt hat?«, wollte sie wissen.
»Er hat gesagt, seine Schwester würde sich um ihn kümmern, solange er sich von seinen Verletzungen erholt. Parrish hat Phil den Fuß gebrochen.«
»Es gibt also vier weitere Personen, die mit Ihnen in die Berge gezogen sind, aber Sie haben seither mit keinem von ihnen gesprochen?«
»Genau.« Ich überlegte kurz und sagte dann: »Glauben Sie, die anderen könnten auch damit zu kämpfen haben?«
»Glauben Sie es?«
Ich zögerte nur kurz, bevor ich antwortete. »Ja.«
»Wie könnten Sie das herausfinden?«
»Indem ich mit ihnen rede.«
»Machen wir das mal zu Ihrer ersten Hausaufgabe.«
»Hausaufgabe!«
»Haben Sie gedacht, Therapie sei leicht?« Sie lachte.
»Nein«, antwortete ich ehrlich.
»Nur diese vier Personen. Ein Anruf, ein Besuch – nehmen Sie einfach Kontakt zu ihnen auf. Einverstanden? Und jetzt sprechen wir noch über Schlaf und Ernährung …«
39
MONTAG NACHMITTAG, 11. SEPTEMBER
Las Piernas
Parrish summte bei der Arbeit vor
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