Grabesstille
Jack sitzt in Ihrem Wartezimmer, während wir uns unterhalten.«
»Kommt Ihnen das angesichts der Umstände übertrieben vor?«
»Nein, aber ich habe miterlebt, wie Parrish in genau drei Minuten sieben Männer erledigt hat, also tröstet mich das auch nicht.«
»Ist es das, was Sie daran belastet?«
Über diese Frage musste ich nicht lange nachdenken. »Nein. Es belastet mich, weil es einengend ist.«
Ich muss zugeben, dass sie sehr geschickt war. Sie schaffte es, mich dazu zu bringen, dass ich über meine Angst vor engen Räumen sprach, und irgendwie führte das zu einem Gespräch über den Aufenthalt in einem Zelt, was wiederum zu einem Austausch über die Exkursion und die Ereignisse dabei führte.
Jack musste lange warten.
Nach einer Weile fragte sie: »Bevor Sie zu dieser Exkursion aufgebrochen sind, war Ihnen in den Bergen mulmig zumute. Sie neigen zu Klaustrophobie, und doch haben Sie sich freiwillig einer Gruppe angeschlossen, die mehrere Tage in Zelten übernachten würde. Detective Thompson – so hieß er doch?«
»Ja.«
»Detective Thompson war schon mehrmals unfreundlich zu Ihnen gewesen, und doch haben Sie beschlossen, sich der Exkursion unter seiner Leitung anzuschließen.«
»Ja.«
»Warum?«
»Ich hatte kein Mitspracherecht dabei, wer sie leiten sollte.«
»Warum haben Sie eingewilligt, an diesem Marsch in die Berge teilzunehmen?«
Ich zuckte mit den Achseln. »Was soll ich sagen? Ich bin eben Masochistin.«
Sie wartete.
»Ich bin wegen der Arbeit mitgegangen«, sagte ich gereizt. »Es war eine gute Gelegenheit für die Zeitung.«
Sie wartete immer noch.
»Meine Stunde ist schon lange vorbei«, sagte ich und griff nach meiner Tasche.
»Warum sind Sie mitgegangen?«, wiederholte sie stur.
»Julia Sayre!«, fauchte ich.
Sie reagierte nicht.
Ich stellte meine Tasche wieder ab. »Nein, eigentlich nicht wegen Julia. Wegen ihrer Tochter und ihres Mannes und ihres Sohnes. Jahrelang haben sie sich gefragt, was ihr zugestoßen ist. Ich habe versucht, ihnen dabei zu helfen, die Fragen nach ihrem Verschwinden zu beantworten.«
»Eine gute Absicht.«
»Zu einem verdammt hohen Preis.«
»Ja, aber Sie haben diesen Preis nicht bestimmt, oder?«
»Nein.«
»Im Grunde hat es Sie mehr gekostet, als Sie erwartet hatten.«
Ich schüttelte den Kopf. »Andere Leute haben wesentlich mehr bezahlt.«
»Was können Sie dagegen tun?«
»Nichts.«
»Haben Sie mit Angehörigen der Männer gesprochen, die mit Ihnen dort hinaufgezogen sind?«
»Mein Gott, nein.« Ich merkte, wie ich rot anlief. »Nein. Ich fühle mich zwar schrecklich dabei, aber wenn ich mir vorstelle, diesen Leuten gegenüberzutreten …«
»Was könnte passieren?«
»Ich weiß es nicht. Sie könnten fragen – gleich als ich zurückgekommen bin, hat Gillian nach ihrer Mutter gefragt. Ich konnte ihr nichts sagen. Ich kann nicht – ich kann nicht über das sprechen, was ich gesehen habe. Nicht mit den Angehörigen. Noch nicht.«
Sie schenkte ein Glas Wasser ein und reichte es mir. Dann wartete sie ab, bis ich mich etwas beruhigt hatte.
»Sie haben mit Gillian gesprochen, bevor die Leiche ihrer Mutter für die Familie freigegeben wurde?«
»Ja.«
»Aber inzwischen haben die Familien die Beerdigungen hinter sich, stimmt’s?«
Ich nickte.
»Ich bezweifle zwar, dass sie derartige Fragen haben werden, aber wenn sie fragen«, meinte sie, »und Sie ihnen höflich erklären, dass Sie momentan lieber nicht darüber reden würden –?«
»Dann sind sie trotzdem wütend, selbst wenn das Thema nie zur Sprache kommt. Sie müssen mich hassen.«
»Weil Sie überlebt haben?«
»Ja. Und weil das Medieninteresse vermutlich einer der Gründe dafür war, dass Parrish sämtliche Männer umgebracht hat. Sie sehen die einzige Reporterin vor sich, die dort hinaufmarschiert ist.«
»Sind Sie dort hinaufmarschiert, um Parrish zu glorifizieren?«
»Nein. Vermutlich könnte man jegliches Medieninteresse als Glorifizierung seiner Person betrachten, aber das war nicht meine Absicht.«
»Sie glauben also, die Angehörigen müssten wütend auf Sie sein, weil er versucht hat, Sie für andere Zwecke als Ihre eigenen zu missbrauchen?«
»Ja.«
»Wirklich?«
»Menschen sind nicht immer logisch. Sie sehen mich als Reporterin. Manchmal glaube ich, es wäre einfacher, den Leuten zu sagen, ich sei Steuerprüferin.«
»Haben Sie irgendwelche Belege dafür, dass diese spezielle Gruppe von Menschen – die Angehörigen der Opfer – Sie unfair behandeln
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