Grabesstille
übermäßig, aber … hey, warum weinst du denn?«
Und so erzählte ich ihm, wie ich nach meinem Besuch im Kartenladen Knochen gerochen hatte. Das führte dazu, dass ich ihm erzählte, wie ich mir einbildete, immer wieder Parrish zu sehen. »Mein Gott, ich habe mir sogar ein Auto zusammenfantasiert, in dem er herumfährt!«
Er reichte mir ein Päckchen Kleenex. Ich brauchte sie allesamt auf. Als ich mich ein bisschen beruhigt hatte, fragte er: »Hast du das Frank erzählt?«
Ich schüttelte den Kopf. »Er macht sich so schon genug Sorgen. Er braucht sich nicht auch noch den Kopf darüber zu zerbrechen, ob die Klapsmühle die Visa-Card akzeptiert.«
»Also, ich glaube jedenfalls nicht, dass du verrückt bist.«
Ich erwiderte nichts.
»Wie riechen Knochen eigentlich?«, fragte er.
»Es ist ein schwacher trocken-süßlicher Geruch. Ich kann ihn nur wahrnehmen, wenn die Knochen das sind, was Ben ›fettig‹ nennt.«
»Weißt du das von den Gräbern oben in den Bergen?«
»Nein. Das waren ja nicht nur Skelette – da war Adipocire und anderes Gewebe dabei und außerdem ein geradezu betäubender Verwesungsgeruch. Aber ich habe Ben an einem Tag, als sie mit Knochen gearbeitet haben, in seinem Labor an der Uni besucht.«
»Ich habe etwas gerochen, das eine Art süßlichen, wachsartigen Geruch ausströmt. Riechen Knochen so?«
»Man könnte es wohl so beschreiben.«
»Dann lass uns mal den Van durchsuchen.«
Ich zögerte und blickte zum Haus der Burdens zurück. »Fahren wir ein Stück von hier weg, einverstanden? Ich möchte die beiden nicht verstören, falls wir etwas finden.«
Mit breitem Grinsen erklomm er den Fahrersitz. Als ich mich auf den Beifahrersitz schwang, fragte ich: »Was ist denn so lustig?«
»Lustig ist gar nichts – ich freue mich nur, weil ich dich endlich davon überzeugt habe, dass es auch das Produkt von etwas anderem als deiner Einbildung sein kann, sonst würdest du nämlich nicht verlangen, dass wir ein Stück weit wegfahren.«
»Sei dir da nicht so sicher«, warnte ich ihn. Ich sah in den Spiegel an der Sonnenblende. Das Schaurigste im ganzen Wagen musste mein Gesicht sein – geschwollene Augen und knallrote Nase. Den Blick noch auf den Spiegel gerichtet, machte ich das Handschuhfach auf und griff nach meiner Sonnenbrille.
Meine Hand fasste in ein Häufchen kleiner Gegenstände, noch bevor mir der Geruch in die Nase stieg.
Ich schrie auf.
Jack trat auf die Bremse.
Kleine Knöchelchen fielen aus dem Handschuhfach, auf meinen Rock, meine Füße, überallhin.
44
MITTWOCH ABEND, 13. SEPTEMBER
Las Piernas
»Im Handschuhfach«, sagte ich. »Ich hätte es wissen müssen.«
Ich war zu Hause und saß auf der Couch, fest gehalten von meinem Mann. Er strich mir übers Haar. Vielleicht würde ich doch nicht wieder arbeiten gehen, dachte ich. Vielleicht würde ich einfach zu Hause bleiben und darauf warten, dass Frank von der Arbeit käme und mir übers Haar streichen würde. Ich seufzte. Unwahrscheinlich.
Ich hatte die Tür des Wagens geöffnet und war auf die Straße gesprungen, während sich ein Regen von kleinen, glatten Knochen um mich herum ergoss. Nachdem er es geschafft hatte, meinen hysterischen Anfall ein wenig zu dämpfen, hatte Jack von seinem Handy aus Frank angerufen.
Der Van wurde von der Polizei beschlagnahmt, um die Fingerabdrücke sicherzustellen, die Nick Parrish demonstrativ hinterlassen hatte, und um die restlichen Knöchelchen der Zehen und Finger einer Unbekannten aufzusammeln.
Auf der Polizeiwache tauchte Ben auf, im Schlepptau Jo Robinson. Ich weiß nicht, wer ihn angerufen hatte, jedenfalls hatte er Jo verständigt. Mein Ärger darüber hielt nicht lange an.
Schließlich sprach ich mit ihr über sich in Luft auflösende Parrishs und erfuhr, dass Leute, die überfallen worden sind, häufig das Gefühl haben, ihren Angreifer zu »sehen«, vor allem in der Öffentlichkeit oder wenn sie unter Stress stehen.
Als ich nicht mehr zitterte, vereinbarten wir einen Termin für den nächsten Tag. Zum ersten Mal freute ich mich darauf.
Die Polizei überprüfte Daten über gestohlene dunkelgrüne Honda Accords und hoffte, die Identität der unbekannten Toten ermitteln zu können.
Als Frank nicht gleich weg konnte, erklärte Ben sich bereit, Jack und mich nach Hause zu bringen.
Während ich noch überlegte, wie ich Travis die Neuigkeit über den Van beibringen sollte, fragte ich Ben, warum es so lange dauerte, zehn Finger und zehn Zehen
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