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Grabesstille

Grabesstille

Titel: Grabesstille Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jan Burke
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seine Physiotherapeutin, sein Prothetiker, Jo Robinson. Es war Arbeit, zu lernen, die Balance zu halten und zu gehen, seinen Amputationsstumpf zu desensibilisieren, den Oberkörper zu kräftigen und einiges mehr.
    Ellen Raice kam mit Projekten und Fragen und hatte manchmal Knochen dabei, die mit der Bitte um Identifizierung oder andere Bestimmungen ins Labor gebracht worden waren. Ben schien froh um die Arbeit and die Ablenkung zu sein.
    Manchmal war Ben brüsk zu Ellen oder anderen Besuchern, die mich allesamt beim Gehen wissend anlächelten und sagten: »Er scheint einen schlechten Tag zu haben.« Aber sie wussten nicht, was ein schlechter Tag bei Ben wirklich bedeutete.
    Zuerst war fast jeder Tag irgendwann ein schlechter Tag. Nicht einmal Ellen bekam diese Seite von Ben zu sehen. Ben wurde die Termine und Übungen leid, die nur dazu erdacht schienen, ihn zu quälen. Ben mit entsetzlichen Schmerzen, der schwere Stürze erlitt. Der jähzornige, ungeduldige Ben. Der mutlose und bekümmerte Ben. Ben, der sich fragte, ob Frauen sich von ihm abgestoßen fühlen würden, der fürchtete, dass sein Sexualleben mit zweiunddreißig beendet und er dazu verurteilt war, ein einsames Leben zu führen. Ben, der versuchte, sich an das zu gewöhnen, was er sah, wenn er in einen großen Spiegel blickte.
    In diesem Sommer verbrachte ich jede wache Stunde, in der ich nicht arbeiten musste, mit Ben. Die anderen Stunden deckten Frank und Jack ab. Ben erlaubte uns dreien, ihn von seiner verletzlichsten Seite zu sehen, aber wir waren auch die Ersten, die seine Siege miterlebten. Er war einer der hartnäckigsten Menschen, die ich je kennen gelernt habe, und wenn er Rückschläge hinnehmen musste, so ließ er sich davon nicht aufhalten.
    Es war diese hartnäckige Entschlossenheit, die ich auch jetzt auf seiner Miene sah, als ich versuchte, mich wieder zu fassen.
    »Ich glaube«, sagte er, »ich würde als glücklicher Mensch sterben, wenn ich Nick Parrish vor meinem Tod mit bloßen Händen ermorden könnte.«
    »Das wäre es nicht wert«, erwiderte ich. »Und außerdem, wenn Sie sterben, mit wem …«
    »Mit wem können Sie dann darüber sprechen?«, ergänzte er.
    Ich nickte. »Ich habe Frank davon erzählt. Ich habe ihm alles erzählt, aber Sie – Sie waren dabei.«
    »Und trotzdem haben Sie nie richtig mit mir darüber geredet, oder? Wollen Sie den armen Krüppel schützen?«
    »Verfluchte Scheiße, Ben«, sagte ich matt. »Sie wissen, dass das Schwachsinn ist.«
    »Entschuldigung. Das hat Ihnen gerade noch gefehlt, was? Noch mehr Schelte. Sie haben Recht. Der reine Schwachsinn. Mein Gott, kein Wunder, dass Sie nicht mit mir reden. Ich sollte eine Firma aufmachen: ›Grantige Arschlöcher GmbH‹.«
    »Der Chefsessel ist natürlich schon besetzt, aber könnte ich vielleicht wenigstens Vizechefin werden? Ich kann gut mit Sachen werfen. Gibt’s Büros mit Glaswänden?«
    »Was reden Sie denn da?«
    »Ach«, sagte ich schuldbewusst. »Ich habe Sie wohl nicht über mich auf dem Laufenden gehalten.«
    »Ich habe den Eindruck, als hätten Sie mich über verdammt viel nicht auf dem Laufenden gehalten. Was soll das, Irene? Ich ziehe aus, und Sie glauben, damit höre ich auf, mich für Sie und Frank und Jack zu interessieren?«
    »Sie wollten von sich aus weg. Warum sollte ich Sie damit belasten –«
    »Mich belasten! Sie wollen mich belasten? Mann, das ist ja ein Witz!«
    Ich sagte nichts.
    »Erzählen Sie mir, was in der Arbeit passiert ist«, bat er.
    Ich erzählte ihm von meinem Monitorwurf in Wrigleys Büro. Mir war nicht wohl dabei, da ich fürchtete, ihm werde gleich mulmig werden, weil man ihn am Strand mit einer Verrückten allein gelassen hatte. Doch er reagierte ganz anders.
    »Mein Gott«, sagte er und sah mich derart betroffen an, dass meine Tränen schon wieder zu fließen drohten. »Sie haben wirklich harte Zeiten durchgemacht, was?«
    »Ein bisschen«, sagte ich.
    Er lachte.
    »Ja, harte Zeiten«, gab ich zu.
    »Ich komme mir vor wie ein egoistisches Schwein!«
    »Nicht«, widersprach ich entschieden.
    Er sagte nichts mehr, doch ich sah ihm an, dass er wütend war. Auf sich selbst, auf mich – ich weiß nicht, wer sonst noch auf der Liste stand.
    Mittlerweile waren Frank und J. C. wieder zu uns gestoßen. Frank sah mich nur einmal an und legte dann den Arm um mich. Ich erwiderte die Geste. Ben ignorierte mich standhaft, und da Frank die Spannung zwischen uns spürte, ließ er Ben und J. C. mit den Hunden vorausgehen.
    »Alles

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