Grabesstille
aufzusammeln. »Zehn? An jedem Fuß sind vierzehn Glieder nötig, um die Zehen zu bilden – und das sind nur die Zehen, wohlgemerkt, nicht der ganze Fuß. An jeder Hand gibt es vierzehn Fingerglieder. Das sind sechsundfünfzig Knochen, wenn wir sie alle intakt finden.«
In dem Bemühen, mich in bessere Stimmung zu bringen, erzählte Ben, dass er mit zweiundvierzig auskam, was mich tatsächlich vom Nachgrübeln über die Fingerknöchelchen der Unbekannten ablenkte und darüber nachdenken ließ, was für eine Arbeit diese Finger wohl verrichtet und ob sie je eine Katze gestreichelt, einen Geliebten berührt oder etwas so Fragiles, wie sie selbst es waren, gehalten hatten.
Ben und der Unbekannten zuliebe ließ ich meine Wut auf Nick Parrish ein bisschen mehr von meiner Angst vor ihm auffressen. Doch im Laufe des Abends gab sogar die Wut der Erschöpfung nach. Ich war eingeschlafen, als Frank nach Hause kam, wachte aber auf, um mit ihm zu reden, während er sich ein spätes Abendessen zubereitete. Hinterher kuschelten wir uns aufs Sofa.
»Du weißt, dass du mit mir reden kannst«, sagte er.
»Ja.«
»Entschuldige. Keine Rügen mehr.«
»Dafür habe ich eine Rüge verdient.«
»Nein«, widersprach er und zog mich enger an sich. »Nein.«
In anderer Hinsicht wurde daraus schließlich ein klares Ja.
Danach schliefen wir, einen festen, tiefen und erquickenden Schlaf, der die ganze Nacht hindurch anhielt.
»Sie sehen heute gut aus«, sagte Jo Robinson.
»Besser geschlafen«, erklärte ich, während ich eine gewisse Schläue in ihrem Lächeln las.
Am Ende der Sitzung sagte sie: »Ihre Besuche bei den Familien der getöteten Männer scheinen gut verlaufen zu sein. Besser, als Sie erwartet haben?«
»Viel besser.«
»Haben Sie versucht, Officer Houghton anzurufen?«
»Jim Houghton ist der einzige Überlebende, den ich einfach nicht ausfindig machen kann. Er hat den Dienst bei der Polizei quittiert und den Staat verlassen. Aber eine Freundin von mir, die Privatdetektivin ist, versucht, ihn zu finden.«
»Sie haben sich alle Mühe gegeben. Ich hoffe, es klappt. Aber in der Zwischenzeit sollten Sie vielleicht versuchen, noch einmal mit den Sayres zu sprechen.«
Ich gewann den Kampf gegen den Impuls zu widersprechen. »Lassen Sie mich wieder in die Arbeit gehen, wenn ich es tue?«
»Hmm. Sie wollen einen Handel abschließen, stimmt’s?«
»Ja.«
»Tut mir Leid, so läuft das nicht.«
Ich musterte meine Hände.
»Jedenfalls«, fuhr sie fort, »wollte ich Ihnen unabhängig von irgendeinem Handel, den Sie sich vorgestellt haben, eine allmähliche Rückkehr in die Arbeit vorschlagen.«
»Allmählich? Was heißt das?«
»Teilzeit.«
»Ich bin mir nicht sicher, ob der Express damit einverstanden sein wird.«
»Überlassen Sie das mir. Und ich möchte, dass Sie bis zum nächsten Mal über Parzival nachdenken.«
»Parzival?«
»Ja. Was glauben Sie, weshalb Sie die Geschichte von Parzival gewählt haben?«
»Ben hat nach ihr gefragt. Ich habe sie in Fortsetzungen erzählt.«
»Nein, ich wollte wissen, warum Sie sie beim ersten Mal gewählt haben.«
»In den Bergen?«
»Ja.«
»Ich weiß nicht. Weil ich sie kurz zuvor gelesen habe, vermutlich.«
Sie wartete, doch diesmal wartete sie umsonst.
»Denken Sie ein bisschen darüber nach«, bat sie.
»Okay«, sagte ich und erhob mich.
»Nicht so schnell – was die Sayres angeht …«
Ich versuchte zuerst Gillian anzurufen, da sie versucht hatte, Kontakt zu mir aufzunehmen, aber sie hatte keine Nummer hinterlassen, als sie mit Frank gesprochen hatte, und die, die ich von ihr hatte, war abgemeldet. Bei der Boutique, in der sie arbeitete, hatte ich auch kein Glück.
»Die Medien, Mann«, sagte der Besitzer.
»Die Medien?«
»Ja, sie ist nicht mehr zur Arbeit gekommen, nachdem diese ganzen Typen in den Bergen gekillt worden sind. Wissen Sie, die Leutchen, die nach ihrer alten Dame gesucht haben? Also hat sie mich irgendwann angerufen und gesagt, sie kommt nicht mehr und sucht sich auch ‘ne neue Bude, weil die Medien sie wahnsinnig machen, wissen Sie? Andauernd wollten sie sie interviewen und so’n Scheiß, wissen Sie?«
Ja, wusste ich.
Ich rief Mark Baker beim Express an und fragte ihn, ob er Kontakt zur Familie Sayre gehabt hatte, seit Julias Leiche gefunden worden war.
»Gillian habe ich einmal gesehen, ein paar Wochen danach«, antwortete Mark. »Ich habe den Besitzer des Ladens, in dem sie gearbeitet hat, gebeten, mich zu verständigen, wenn
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