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Grabesstille

Grabesstille

Titel: Grabesstille Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jan Burke
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wie Sie.«
    Sie starrte ihn voller Entsetzen an.
    »Sie können mit niemandem mehr Mitgefühl empfinden, stimmt’s? Von allem, was Ihre Mutter in Ihnen zerstört hat –«
    »Wen juckt’s?«, sagte sie. »Ich kümmere mich um mich selbst.«
    »Die ganze Zeit habe ich gedacht, Sie seien stoisch – aber Sie sind nicht stoisch, Sie sind herzlos.«
    »Egal.« Sie ließ ihren Kopf in die Hände sinken. »Von Ihrem Gerede kriege ich Kopfweh.«
    »Sie können niemanden bedauern, was? Nicht einmal ihn.«
    Sie beugte sich vor, und ich dachte schon, dass ihr vielleicht wirklich schlecht war. Doch dann fasste sie gelassen und auf höchst undamenhafte Weise unter ihren Rock und holte einen Revolver hervor. Sie stand auf und zielte damit direkt auf mich. Falls sie den Aufruhr vor dem Zimmer hörte, wo blitzartig eine Pistole nach der anderen auf sie gerichtet wurde, so ließ sie es sich nicht anmerken.
    »Bin ich diejenige, die Sie getäuscht hat?«, fragte ich. »Oder war es der allmächtige Nicky?«
    »Mmmaah!«
    Sie wirbelte zu Parrish herum. Ich packte sie von hinten. Wir gingen zu Boden und krachten dabei gegen mehrere Stühle. Der Revolver ging los, ein ohrenbetäubender Knall, der es mir einen Moment unmöglich machte, etwas anderes zu hören.
    Binnen Sekunden waren wir völlig ineinander verkeilt – und ein Uniformierter hatte ihr die Waffe aus der Hand gerungen.
    In der Luft hing der Geruch von Schießpulver, und ich spürte, wie mir ein starkes Paar Arme auf die Beine half.
    »Alles in Ordnung?«, fragte Frank.
    »Ja.«
    Ich hörte, wie ihr jemand ihre Rechte vorlas, und drehte mich um, um sie anzusehen. Als man sie zum Aufzug führte, warf sie mir einen Blick zu. Es war derselbe flehende Blick, der mich vier Jahre lang verfolgt hatte.
    Und der mich vier Jahre lang genarrt hatte.
    »Tun Sie sich das nicht an«, sagte Ben und kam zu uns herüber.
    »Was?«
    »Sich selbst Vorwürfe zu machen.«
    Ich gab ihm keine Antwort, denn in diesem Moment kam eine Polizistin herein, um mir das Mikrofon abzunehmen. Sie lobte mich dafür, wie toll ich mich geschlagen hätte. Frank, der mein Gesicht sah, sagte ihr – auf seine höfliche Art –, dass sie sich beeilen, die Gerätschaften mitnehmen und mich in Ruhe lassen sollte.
    »Bist du sicher, dass es dir gut geht?«, fragte er, als sie gegangen war.
    Ich nickte.
    »Und wie steht’s mit Ihnen, Ben?«, fragte er.
    »Momentan nicht so toll«, gab er zu.
    »Einer von uns lügt«, sagte ich. »Ich schätze, ich.«
    Parrish gurgelte.
    Ich ging hinüber und sah in sein Gesicht hinab. In seinen Augen leuchtete so etwas wie Lachen.
    »Freu dich nicht zu sehr darüber, Nicky. Ich komme über alles hinweg, was mich belastet.«
    Sein Gesicht zuckte.
    »In zehn Jahren, wenn du immer noch an die Decke starrst und dir den Tod herbeiwünschst – oder dir vielleicht auch nur wünschst, dass jemand hereinkommt und dir die Nase kratzt –, dann möchte ich, dass du daran denkst, was ich deinen Opfern zuliebe getan habe. Ich habe dir das Leben gerettet.«
    »Mmmaah! Mmmaaaahh!«
    »Leb wohl, Nicky. Ich hoffe, du wirst hundert Jahre alt.«
     

62
     
    MITTWOCH, 18. OKTOBER, MITTERNACHT
    Dach des Wrigley-Buildings
     
    Drei Wochen später stand ich um Mitternacht auf dem Dach des Express und blickte auf die Stadt hinab. Ich arbeitete immer noch Teilzeit in unregelmäßigen Schichten. Ich hatte einige meiner Termine bei Jo Robinson abgesagt und John erklärt, dass er Wrigley nicht wegen einer Änderung meiner Arbeitszeiten traktieren solle.
    Ich mochte die gemächlichen Schichten, hatte ich ihm versichert. Sie waren nicht wirklich gemächlich – ich hatte eine Menge nachzuholen.
    Das stimmte, aber irgendwie kam ich nie zum Nachholen.
    In mir herrschte Unruhe. Ich merkte, wie ich den Reiseteil betrachtete, anstatt meine Post zu lesen. Ich begann auch Immobilienanzeigen zu studieren. Ich überlegte, ob ich Frank dazu überreden könnte, woandershin zu ziehen und den Beruf zu wechseln.
    Frank hörte sich meine Vorschläge an und sagte: »Das ist eine Möglichkeit, aber vielleicht ist jetzt kein günstiger Zeitpunkt für eine solche Entscheidung.«
    Ich möchte gar nicht daran denken, was mir in diesen Wochen hätte widerfahren können, wenn ich nicht mit Frank Harriman verheiratet gewesen wäre. Er bedrängte mich weder, noch nörgelte er. Er verwöhnte mich nach Strich und Faden. Ich glaube, ich brauchte es, ein bisschen verwöhnt zu werden. Bei ihm hatte ich das Gefühl, als gäbe es keine

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