Grabesstille
Rats denken musste, der ›I Don’t Like Mondays‹ heißt. Kennen Sie ihn?«
»Ja.« Er sang einen kleinen Teil des Refrains.
»Genau. Er hat mir etwas in Erinnerung gerufen. Die Inspiration für diesen Song war eine Schießerei in San Carlos – das liegt in der Nähe von San Diego. Ein sechzehnjähriges Mädchen namens Brenda Spencer beschloss, mit einem Gewehr auf einen Schulhof zu zielen und einen Heckenschützen-Marathon hinzulegen. Das war 1979, als es noch nicht so üblich war, dass auf Schulhöfen Gewehre abgefeuert werden.«
»Eindeutig zynisch. Aber ich kann mich an diese Geschichte erinnern. Sie hat mehrere Stunden lang aus ihrem Elternhaus auf die Schule gefeuert, stimmt’s?«
»Ja. Und in dieser Zeit hat sie zwei Menschen umgebracht und neun weitere verwundet. Als man sie gefragt hat, warum, hat sie geantwortet: ›I don’t like Mondays.‹«
»Guter Gott.«
»Sie hat gesagt: ›Ich mag keine Montage. Das hier bringt Schwung in den Tag.‹«
»Und dieser Song hat Sie an etwas anderes erinnert?«
»Ja«, bestätigte ich. »Ich mag den Song. Viele mögen ihn. Aber er wurde im selben Jahr verfasst, in dem auch die Schießerei stattfand – was mittlerweile zwei Jahrzehnte her ist. Also habe ich ihn schon lange nicht mehr gehört.«
Er wollte gerade etwas sagen, als der Polizist vor der Tür hereinkam und sagte: »Ms. Kelly? Sind Sie bereit?«
»Voll und ganz. Danke«, antwortete ich. »Ben, ich muss Sie bitten, mit Frank im Nebenraum zu warten.«
»Frank ist hier?«, fragte er und sah sich um.
»Ja. Keine Sorge. Sie können alles mithören, was wir sagen«, erklärte ich und fasste hinter mich.
»Sie sind verkabelt?«, fragte er ungläubig. »Ich weiß nicht, ob ich –«
»Bitte, Ben«, bat ich. »Frank kann Ihnen alles erklären.«
Er verschränkte die Arme.
Das Funkgerät des Polizisten knisterte.
»Jetzt oder nie, Mrs. Harriman«, sagte er.
Ben rührte sich nicht vom Fleck.
»Ben, wenn Sie nur ein bisschen Vertrauen zu mir haben, verschwinden Sie jetzt.«
Widerwillig zog er mit dem Polizisten ab.
Ich drückte eine Taste, nannte meinen Namen sowie Datum, Uhrzeit und Ort und erklärte, dass Nick Parrish anwesend war.
Parrish machte sein »Mmmaah«.
Ich blickte durch die Glaswand zur Schwesternstation. Eine Frau, die genau wie eine Krankenschwester gekleidet war, aber keinerlei Patienten pflegte, nickte mir zu. In einem anderen Raum drehte sich das Tonband. In meinen Gedanken kreisten Rädchen weiter, die schon den ganzen Tag am Rotieren gewesen waren.
Die Aufzugtür öffnete sich.
61
MITTWOCH, 27. SEPTEMBER, SPÄTNACHMITTAG
Las Piernas
Ich wischte mir die Handflächen ab.
Sie näherte sich vorsichtig, zögerlich. Sie trug ein Business-Kostüm mit einem Rock von der konservativsten Länge, die ich je an ihr gesehen hatte. In der Hand hielt sie eine schicke Lederhandtasche. Ich konnte mich des Eindrucks nicht erwehren, dass sie wie ein Kind aussah, das auf erwachsen macht.
Auf ihrer Miene zeichnete sich gelindes Erstaunen ab, als sie mich sah, doch dann betrat sie den Raum. »Hallo, Irene.«
»Hallo, Gillian.«
»Es – es erleichtert mich, Sie hier zu sehen, Irene. Ich habe ein bisschen Angst davor, mit ihm allein zu sein.«
»Warum sind Sie dann überhaupt gekommen?«
»Ich musste.« Sie warf mir einen Blick zu. »Hat man Ihre Handtasche durchsucht, als Sie gekommen sind?«
»Ja«, bestätigte ich. »Sie durchsuchen jeden.«
»Warum?«
»Jemand könnte ihm etwas antun wollen. Im Moment lassen sie Gott allein Rache üben.«
»Nicht nur Gott – Sie auch. Ich habe gehört, was Sie getan haben.«
Ich versuchte, mich davon nicht aus der Ruhe bringen zu lassen.
»Vielleicht halten Sie mich für pervers, weil ich das sage«, fuhr sie fort, »aber ich musste ihn sehen. Ich musste den Mann sehen, der meiner Mutter das alles angetan hat. Vier Jahre habe ich gewartet.«
»Aber Sie haben ihn doch schon vorher gesehen«, wandte ich ein.
Ihre Augen weiteten sich ein wenig.
»Er war Ihr Nachbar, stimmt’s?«
»Ja«, antwortete sie und schlich näher ans Bett heran. »Aber das ist schon lange her.« Sie beugte sich vor und sah ihm in die Augen.
»Mmmaah«, machte Parrish. Sie wurde bleich und zuckte vom Bett zurück.
»Kommen Sie«, sagte ich und legte ihr einen Arm um die Schultern, »setzen Sie sich. Er ist gar nicht so beängstigend, wenn man sich erst mal an ihn gewöhnt hat – obwohl ich annehme, dass er sich sehr verändert hat, seit Sie ihn das
Weitere Kostenlose Bücher