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Grabesstille

Grabesstille

Titel: Grabesstille Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jan Burke
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irgendetwas anderem zu tun?«
    »Leider nichts. Ihr Vater hat also nie gesehen, wie sie Sie misshandelt hat?«, fragte ich.
    »O nein. Darauf hat sie genau geachtet.«
    »Und er wollte Ihnen nicht glauben?«
    »Nein.« Sie lächelte erneut. »Er hat gesagt, er glaubt mir nicht.«
    »Mmmmaah«, ertönte ein Laut aus dem Bett.
    »Nick Parrish hat Ihnen geglaubt, oder?«, fragte ich.
    Sie nickte und sah erneut zu ihm hinüber. »Bei ihm zu Hause ist das Gleiche abgelaufen, als er noch klein war. Nur dass seine alte Dame auf ihn losgegangen ist und seine kleine Schwester in Ruhe gelassen hat.«
    »Sie sind also zu Mr. Parrish nach Hause gegangen und haben ihm erzählt, was sich abspielt?«
    Sie schüttelte den Kopf.
    »Nein. Damals kannte ich ihn gar nicht richtig. Erst später, als ich merkte, wie er das Haus beobachtet. Er hat sich an meine Mutter erinnert, weil sie seiner Mutter ähnlich sah, nur dass sie zu jung war. Er kam zurück, um sie sich anzusehen, als sie ein bisschen älter war.«
    »Mmmmaah!«, machte er.
    »Er war so gut zu mir. Und er hatte so viel … so viel Macht! Er verstand mich. Ich wusste es vom ersten Moment an, als ich ihn das Haus beobachten sah – schon vor diesem Abend, von dem Ihnen Jason erzählt hat. Ich habe ihn gesehen. Ich war die Einzige, die je schlau genug war, ihn zu bemerken, bevor ihm aufgefallen ist, dass er beobachtet wird. Niemand hatte es je geschafft, ihm auf die Schliche zu kommen. Er war beeindruckt.«
    »Mmmaah!«, machte er wieder.
    »Er stand kurz davor, Ruhm zu erlangen. Ich habe ihm geholfen. Es war aufregend.«
    Den ganzen Tag lang hatte ich in meinen Gedanken an sie versucht, sie so zu sehen, wie sie war, nicht so, wie ich sie gerne gehabt hätte. Sie nicht als das Opfer zu sehen, das sie in meinen Augen so viele Jahre lang gewesen war, sondern als die Helferin des Mörders. »Wie konnte sie ihm Hilfe leisten?«, hatte ich mich wieder und wieder gefragt, während ich an Parrishs Opfer, deren trauernde Familien und Freunde dachte – unter ihnen nicht nur ihre Mutter, sondern auch ihr jüngerer Bruder. Dass sie misshandelt worden war, mochte vielleicht ihre Wut auf Julia und einiges mehr erklären, aber mit diesem einen Satz – »Es war aufregend« – wurde sie mir wieder ganz fremd. Was ich auch immer an Mitleid für das Kind, das sie gewesen war, empfunden haben mochte – die junge Frau war ein Mensch, den ich nicht einmal ansatzweise verstehen konnte.
    Ich wich vor ihr zurück.
    »Wie haben Sie ihm geholfen?«, fragte ich.
    »Ich habe ihm gesagt, wo sie an diesem Nachmittag hin wollte.«
    »Und Sie waren dabei, als er sie umgebracht hat?«
    Sie schüttelte den Kopf. »Dabei hat er mich nicht zusehen lassen. Aber er hat mir Fotos gezeigt, später, als er erkannt hatte, dass ich würdig war.«
    »Würdig?« Mein Ekel schien sie nicht zu kümmern.
    »Er hat noch nie einen anderen Jünger gehabt«, erklärte sie stolz. »Ich bin die Erste. Ich habe ihm versichert, ich würde dafür sorgen, dass die Welt von ihm hört.«
    »Mit meiner unwissentlichen Hilfe«, sagte ich bitter.
    »Natürlich hat er die Pläne gemacht, aber wer hätte ohne mich von ihm erfahren? Ich war es, die alle in Angst und Schrecken gehalten hat und bei ihnen den Wunsch ausgelöst hat, in die Berge zu ziehen.«
    »Damit wir die Trophäen seiner Morde sehen konnten.«
    »Sie hätten nie von ihm erfahren, wenn wir nicht geplant hätten, dass Sie über den Tod meiner Mutter schreiben sollen, oder?«
    »Vielleicht nicht«, sagte ich, plötzlich müde geworden.
    »Deshalb hat er sie an ihrem eigenen Platz begraben. Ich habe es gesehen.«
    »Was in aller Welt hat Sie zu jemandem wie ihm hingezogen? Zu wissen, wozu er imstande war –«
    »Genau! Ich wusste, wozu er imstande war. Ich erkannte seine Macht. Sogar jetzt – sehen Sie es nicht? Er wird wieder stärker. Er kommt zurück. Das versucht er mir zu sagen. Dass ich seine Motte bin, dass die Flamme noch brennt.«
    »Sie sind eine Motte? Das stimmt wohl. Motten lassen sich von dem, was sie anzieht, blenden, stimmt’s? Sie fliegen zu nah an die Flamme, nicht wahr? Sie brennen schon, aber Sie riechen den Rauch an Ihren Flügeln nicht einmal.«
    »Eines Tages werden Sie bereuen, dass Sie das gesagt haben.«
    »Er erholt sich nicht, Gillian. Das war gelogen. Er wird den Rest seines Lebens in diesem Zustand verbringen.«
    »Nein! Sie lügen jetzt!«
    »Ich glaube, Sie wissen, dass es die Wahrheit ist. Sehen Sie ihn an. Er ist hohl«, sagte ich. »Genau

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