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Grabesstille

Grabesstille

Titel: Grabesstille Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jan Burke
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Geheimnisse, die nicht erzählt werden, und keine Ängste, die nicht ausgesprochen werden durften. Es gab Abende, an denen ich mich ihm anvertraute. Sie verhinderten, dass ich den letzten Rest an Gleichgewicht auch noch verlor.
    Die Tage bestanden aus Vermeidungsstrategien. Ich wusste, dass ich nicht weiterhin auf der Oberfläche des Lebens treten konnte, wusste, dass ich wieder hineintauchen musste. Leicht gesagt.
    Oben auf dem Dach wehte in dieser Nacht eine warme, herbstliche Brise. »Milde Santa-Ana-Winde« hatte es im Wetterbericht geheißen. Das bedeutete, dass der Smog von Wüstenwinden weggeblasen wurde, die Tage ein bisschen zu heiß waren, jedoch die meisten Leute nicht derart durchdrehen würden, wie es bei einem richtigen roten Wind der Fall wäre. Es bedeutete, dass die Sicht besser war als sonst. Ich konnte die Insel Catalina sehen, die entfernten Lichter von Avalon.
    Eigentlich sollte ich jetzt wieder hinunter zu meinem Schreibtisch gehen und arbeiten, dachte ich und nahm noch einen tiefen Schluck aus meiner Wasserflasche. Doch das würde bedeuten, drinnen zu sein. Und ich wollte nicht drinnen sein – noch nicht.
    Ich hörte die Tür zum Dach aufgehen und verspannte mich. Vermutlich nur Jerry oder Livy, vielleicht auch Leonard. Jerry und Leonard begrüßten mich stets mit dem gleichen Witz: Beide erklärten, sie wollten sich nur vergewissern, dass ich nicht gesprungen sei. Livy sagte das nie, aber ich glaube, sie war sich auch sicherer, dass ich nicht auf dem Pflaster vor dem Haus enden würde. Nicht mein Stil. Ich würde nie etwas tun, das andere dazu zwingt, meinen Abgang mit einem Schlauch wegzuspritzen.
    Der heutige Besucher meines luftigen Ausgucks kam um die Ecke. Verblüfft sah ich Ben Sheridan vor mir auftauchen.
    »So spät noch auf, Professor?«, sagte ich, als er näher kam.
    »Und so hoch oben. Könnten wir vielleicht ein bisschen von der Kante weggehen?«
    »Aber sicher. Kommen Sie und nehmen Sie im Café Kelly Platz. Wir veranstalten zwar keine HubschrauberShows mehr, aber das Wasser schmeckt prima.«
    »Klingt gut.«
    Wir setzten uns und legten die Füße hoch, sowohl die angeborenen als auch die nachgebildeten.
    »Sie sind mir noch was schuldig«, sagte er und trank einen Schluck Wasser.
    »Das habe ich nicht vergessen. Wenn Sie es wirklich hören wollen, erzähle ich es Ihnen.«
    »Ja, will ich«, bekräftigte er.
    Und so schilderte ich ihm, was sich an jenem Morgen in den Bergen zugetragen hatte, als Parrish Bingle bedroht, mir das Gesicht in den Matsch gepresst und mich durch den Wald gejagt hatte.
    »Mein Gott«, sagte er, als ich fertig war. »Herrje, wenn ich Ihnen doch nur hätte beistehen können. Mir ist entsetzlich unwohl dabei. Wenn Sie sich nicht darum bemüht hätten, ihn von mir fern zu halten, wären Sie nicht einmal in seine Nähe gekommen. Und ich weiß, dass Sie erschöpft waren, weil Sie –«
    »Hören Sie auf! Wenn Sie die Wahrheit wissen wollen, dann ist genau das der Grund dafür, dass ich Ihnen nie erzählt habe, was Parrish an diesem Morgen gemacht hat. Ich wusste, dass Sie diese albernen Schuldgefühle entwickeln würden, als ob Sie etwas dagegen hätten tun können, als wäre es Ihre Schuld, dass es passiert ist, anstatt die von Parrish.«
    »Ach?«, sagte er. »Sie meinen also, ich würde in dieser Hinsicht ebenso empfinden wie Sie gegenüber der Amputation, der ich mich unterziehen musste?«
    Ich war sprachlos. »Ich empfinde nicht so«, erwiderte ich schließlich.
    »Schwachsinn. Sie verbergen es mittlerweile besser als zu Anfang, aber Sie machen sich immer noch Vorwürfe.«
    Ich wollte es schon abstreiten, überlegte es mir dann aber anders und stürzte mich kopfüber in eine hitzige Auseinandersetzung. »Ja, gut, ich mache mir Vorwürfe! Ein toller Schutz war ich! Sie wissen genau, dass es meine Schuld war.«
    »Was? Ich weiß nichts dergleichen. Ich weiß nur, dass Parrish auf mich geschossen hat. Die Zielscheibe habe ich mir quasi selbst aufgemalt, soweit ich mich erinnere – ja, ich weiß noch genau, dass Sie mir nachgerufen und versucht haben, mich davon abzuhalten, auf die Wiese zu laufen.«
    »Ja, ja«, gab ich ungeduldig zu. »Aber wer hat denn eine halbe Ewigkeit gebraucht, um Sie da draußen zu finden? Wer wusste nicht, wie man die Wunde korrekt versorgt? Wer hat Ihnen nicht genug Keflex gegeben?«
    Er starrte mich ungläubig an und sagte: »Keflex?«
    »Versuchen Sie nicht, mir etwas vorzulügen! Im Krankenhaus hat man mir gesagt, das sei das

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