Grabesstille
ist.«
»Glutheißen Dank.«
Er lachte. »Ich komme vorbei, sobald ich kann.«
»Was machen Sie hier?«, schrie Ben mich fast an, als er in den Raum auf der Intensivstation kam, wo ich neben Parrish saß.
»Senken Sie Ihre Stimme, Ben«, sagte ich. »Sonst glauben sie noch, Sie wollten dem armen, kleinen Nicky hier etwas antun.«
»Will ich auch. Ich schalte dem Schwein den Strom ab!«
Ich seufzte und schlug das Buch zu. »Ben, Sie sind weitaus barmherziger als ich.«
»Barmherziger?!«
»Überlegen Sie mal. Er sitzt im schlimmsten aller Gefängnisse fest.«
Bens wütender Blick veränderte sich auf der Stelle. Er sah zu Parrish hinüber und sagte: »Er überlebt?«
»Ja, es sieht ganz danach aus. Aber er wird sich weder bewegen noch sprechen können. Man nimmt an, dass er uns hören und verstehen kann, außerdem kann er die Augen aufmachen. Ab und zu stößt er gurgelnde Laute aus. Mir gefällt die Vorstellung, dass er etwas sagen möchte.«
»Ihnen gefällt …«
»Ja. Grausam von mir, was? Ich wundere mich ein bisschen über mich selbst. Vielleicht bin ich eines Tages nicht mehr wütend auf ihn wegen allem, was er getan hat, und wünsche ihm wie Sie den Tod.«
Er setzte sich und musterte mich. »Sie können mir nicht einreden, dass Sie hier sind, um sich an seinem Zustand zu weiden.«
»Nein«, sagte ich. »Aber solange ich neben ihm sitzen muss, macht es mir Spaß, schrecklich fiese Dinge zu ihm zu sagen.«
Parrish stieß einen gurgelnden Laut aus. Ben, der es hörte, verzog das Gesicht.
»Grässlich«, stimmte ich zu.
»Warum sind Sie hier?«, fragte Ben erneut.
»Ich warte auf jemanden.«
»Auf wen?«
»Das verrate ich Ihnen später.«
»Irene –«
Er wurde durch einen etwas anderen Laut von Parrish abgelenkt, einer Art Summen.
»Was meinen Sie, was er sagen will?«, fragte Ben und sah ihn argwöhnisch an.
Ich legte das Buch beiseite, stand auf und blickte in Parrishs Augen. »Was hieß das, Nicky?«
»Mmmaah.«
»Vielleicht schreit er nach seiner Mama«, sagte ich und setzte mich wieder.
Ben starrte mich an und sagte dann: »Haben Sie schon daran gedacht, Jo Robinson anzurufen?«
Ich lachte. »Wahrscheinlich habe ich nachher eine lange Sitzung bei ihr nötig. Aber keine Sorge, ich bin nicht hier, um Nicky oder irgendjemandem etwas anzutun.«
»Haben Sie etwas dagegen, wenn ich hier mit Ihnen warte?«, erkundigte sich Ben.
»Nein, zumindest – ach nein, überhaupt nicht. Mr. Nicks Konversationskünste sind reichlich begrenzt.«
Ben warf einen Blick auf ihn und sagte: »Ich wollte eigentlich das Gespräch mit Ihnen führen, das wir schon die ganze Zeit aufschieben, aber ich will nicht vor ihm darüber reden.«
»Was kann er schon dagegen tun?«, erwiderte ich matt. »Fantasieren? Lassen Sie ihn. Endlich befindet er sich in einem Zustand, in dem er das gefahrlos tun kann.«
»Irene –«
»Tut mir Leid, Ben«, sagte ich. »Mir ist heute ein bisschen zynisch zumute. Lassen Sie mich etwas ganz anderes fragen – falls es Ihnen nichts ausmacht, hier vor Nick darüber zu sprechen.«
»Was denn?«
»Sie haben gesagt, dass David manchmal über –« Ich warf einen Blick auf Parrish und veränderte das, was ich sagen wollte. »Sie haben gesagt, dass er nur selten über bestimmte Aspekte seiner Kindheit gesprochen hat.«
»Das ist richtig«, bestätigte er ein wenig steif.
»Außer mit Leuten, die vielleicht das Gleiche erlebt haben.«
»Stimmt.« Er sah zu Parrish hinüber.
»Hat Ihnen David je die Namen der Personen genannt, mit denen er gesprochen hat?«
»Nein. Er hat sich mir gegenüber allgemein geäußert oder mir von jemandem berichtet, ohne einen Namen zu nennen. Er fand zwar, dass … dass ein solcher Hintergrund kein Anlass sein sollte, sich zu schämen, doch er hat hart daran gearbeitet, ihr Vertrauen zu gewinnen, deshalb hätte er es auch nie missbraucht. Er besaß die Fähigkeit, Menschen zu erkennen, die Ähnliches durchgemacht hatten, doch er ging sachte und behutsam auf die Betreffenden zu. Er bedrängte sie nicht, sich ihm zu offenbaren. Zuerst hat er sich ihr Vertrauen verdient.«
Er hielt inne und fragte dann: »Warum wollen Sie etwas über die Leute wissen, mit denen er gesprochen hat?«
»Ich versuche jemanden zu verstehen, den ich kenne«, sagte ich. »Aber womöglich wird mir das nie gelingen.«
»Sie sind heute wirklich zynisch.«
»Tut mir Leid, ja, das bin ich. Es hat schon angefangen, als ich aufgewacht bin und an einen Song von den Boomtown
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