Grabesstille
im Wald einem Mörder auf den Fersen ist, möchte man auch nicht, dass er den Verbrecher andauernd mit Lautgeben und Bellen auf einen aufmerksam macht.
Aber Bingle ist kein Polizeihund, und die meisten Leute, nach denen er sucht, sind tot. Ich bilde mir ein, Bingle zu kennen – und seine Persönlichkeit verlangt es einfach, dass er ab und zu bellt. Er ist gesprächig. Bisher hat sich noch keine der Leichen darüber beklagt. Und wenn ich ihn bitte, still zu arbeiten, tut er das auch.«
»Okay, er gibt also nicht Laut. Aber wie soll er je Julia Sayres Geruch wittern? Sie haben ihm nie ein Kleidungsstück von ihr gegeben, an dem er schnuppern kann, oder –«
»Falls Sie jemals Bool kennen lernen, meinen dussligen Bluthund, können Sie einen Spürhund erleben. Ich will nicht behaupten, dass Bool nie an der Luft schnuppert – das tut er durchaus, aber in erster Linie verfolgt er Fährten. Die meiste Zeit hat er die Nase am Boden. Er ist schon mit einem phänomenalen Geruchssinn zur Welt gekommen; vermutlich übertrifft er darin sogar Bingle. Aber im Gegensatz zu Bingle ist er nicht das, was man intelligent nennen würde. Ich muss ihn an der Leine führen, sonst würde er womöglich, falls derjenige, dessen Spur er verfolgt, dummerweise eine Felswand hinabgestürzt ist, dem Geruch bis in den Abgrund folgen. Er wird sozusagen geruchsblind.« Er hielt inne und schmunzelte versonnen vor sich hin.
Ich dachte über die Gelegenheiten nach, bei denen meine Hunde erbarmungslos irgendeinen interessanten Geruch verfolgt hatten, was meist mit Löchern in unserem Garten oder umgeworfenen Mülltonnen geendet hatte. »Sie suchen also Flächen ab, auf denen ein Verbrechen verübt worden sein könnte«, sagte ich. »Aber die Polizei kann ja nicht jeden Komiker, der sich einbildet, sein Lumpi sei eine Intelligenzbestie, sein Tierchen an die Leine nehmen und zum Herumschnüffeln mitkommen lassen.«
»Richtig. Lumpi und sein Herrchen würden höchstwahrscheinlich Beweise zerstören – ganz zu schweigen von Dutzenden anderer rechtlicher und gesundheitlicher Probleme. Spürhunde sind Arbeitstiere, und die Trainer und ihre Hunde haben viel Übung. Es hört nie auf und erfordert jahrelange Arbeit – und noch mehr als Arbeit. Es ist eine Bindung, man muss seinen Hund durchschauen, es geht um – ach, das ist schwer zu erklären. Bool und Bingle arbeiten unterschiedlich.«
»Inwiefern unterschiedlich?«
»Bool muss vorher Witterung aufnehmen – man muss ihm etwas vom Opfer geben, woran er schnuppern kann. Dann spürt er mit der Schnauze auf dem Boden diesem Geruch nach. Bingle ist in erster Linie ein Hund, der an der Luft riecht, und er ist speziell auf Leichen trainiert.«
»Soll heißen?«
»Jeder Mensch verströmt einen einzigartigen Geruch. Eine mögliche Ausnahme bilden lediglich eineiige Zwillinge. Sonst besitzt jeder seinen eigenen. Wir dünsten diesen Geruch aus, weil jeder lebende Mensch jede Minute schätzungsweise vierzigtausend tote Hautzellen, so genannte Hornschüppchen, verliert, die Bakterien beherbergen und eine unverwechselbare Ausdünstung abgeben.«
»Auch wenn man badet und Deodorant benutzt?«
Er lächelte. »Dagegen ist kein Kraut gewachsen. Sie können den Geruch vor ihren Mitmenschen verbergen, aber nicht vor den Hunden.«
»Okay, aber was ist, wenn ich gar nicht in der Nähe des Hundes bin?«
»Noch einmal zurück zu den Hornschüppchen. Jede Minute stieben diese Schüppchen von uns davon wie eine Wolke, umgeben uns und schweben von uns weg, wenn wir uns bewegen, wobei die Konzentration direkt um uns herum am dichtesten bleibt. Bei jeder Bewegung verteilen sie sich zu einem immer breiter werdenden Kegel – dem so genannten Geruchskegel. Während sie weiter fliegen, bleiben manche dieser Hornschüppchen an anderen Objekten hängen, insbesondere an Pflanzen.«
»Und Bingle riecht die Hornschüppchen?«
»Ja. Die Nase eines Hundes ist für manche Gerüche buchstäblich eine Million mal sensibler als unsere. Und man nimmt an, dass ihre Gehirne Geruchsinformationen auf andere Weise verarbeiten als unsere Gehirne.«
»Er kann also diesem Geruchskegel folgen?«
»Ja. Außerdem ist er darauf trainiert, den Geruch von Blut, Körperflüssigkeiten, Gewebe, Skelettresten und verwesenden Leichenteilen von Menschen aufzuspüren. Und diese Substanzen kann er in geringsten Mengen finden.«
»Ich weiß, dass ich mich selbst für diese Frage hassen werde, aber wie haben Sie es geschafft, ihn darauf zu trainieren,
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