Grabesstille
ihr Stil. Noch bevor er ihn gesehen hatte, wusste er, dass sie einen schlichten Baumwollslip tragen würde. Er fand ihn hinreißend unschuldig, fast wie das Höschen eines kleinen Mädchens. Langsam und ehrfürchtig hob er ihn an sein Gesicht.
Wäre er ein schwächerer Mann gewesen, er hätte geweint.
21
DONNERSTAG ABEND, 18. MAI
Ranger-Station und Heliport des U. S. Forest Service Bergland der südlichen Sierra Nevada
Der Saboteur, der die Hubschrauber der Rangers beobachtete, hatte noch nie eine so wichtige Rolle gespielt. Das brachte zwar eine gewisse Erregung mit sich, aber keine Angst. Nickys Anweisungen waren deutlich gewesen, die Übungsstunden streng, und jede Eventualität außer Versagen war bedacht worden. An Versagen war gar nicht zu denken.
Nicky Parrish würde, das wusste der Saboteur, nicht einmal einen Moment lang in Erwägung ziehen, dass sein Vertrauen – das er sonst noch nie jemandem geschenkt hatte – fehl am Platz war. Ebenso wenig würde Nicky an seinen Helfer denken – Nicky musste sich auf andere Dinge konzentrieren. Nicky wüsste einfach, dass seine Anweisungen ausgeführt wurden – er wüsste es einfach. So, wie er immer alles wusste. Er wüsste, dass seine kleine Motte gehorcht hatte.
Der Eindringling liebte diesen Spitznamen. Als sie sich das erste Mal trafen, hatte Nicky gesagt: »Du fühlst dich von meinem Licht angezogen, nicht wahr, kleine Motte? So werde ich dich nennen. Von nun an bist du meine Motte.«
Niemand, der die Motte bei der Arbeit oder in Gesellschaft erlebt hatte, hätte je gesagt: »Hier ist ein Diener.« Das machte einen Teil der Freude aus, die die Motte darin fand, Nicky zu Diensten zu sein. Nicky hatte auf der Stelle das Bedürfnis der Motte erkannt, zu dienen. Ja, die Motte war sogar der ideale Diener, und um der ideale Diener zu sein, musste man dem idealen Herrn dienen.
Und nun schrieben sie gemeinsam Geschichte. Nicky, der immer allein gehandelt hatte, hatte seinen Diener dieser Ehre für würdig befunden.
Schon der Gedanke daran steigerte die Vorfreude der Motte. Vielleicht würde die Motte später, während einer ihrer inaktiven Zeiten, ein Gedicht darüber schreiben. Doch zuerst gab es etwas zu tun, und ohne auf die Dunkelheit und die Gefahr, den Regen und die Kälte zu achten, wartete und lauerte die Motte, bis sie sah, dass der ideale Augenblick zum Handeln gekommen war.
Es war nicht schwierig, Probleme zu verursachen, kleine Haken in den Plänen anderer Leute, wenn man wusste, wie man es anstellen musste.
Die Motte wusste es.
Die Leute in der Ranger-Station achteten auf den Wald, wo sie Probleme erwarteten, aber nicht auf die Hubschrauber. Nicht in regnerischen Nächten, wenn die Wolken die Berge bedeckten – Nächte, in denen es wenig zu tun gab. Sie schauten nicht nach diesen Maschinen, und sie gingen auch nicht in den kalten Regen hinaus. Bis auf einen von ihnen sahen sie alle fern – einen alten Spielfilm, der lange bevor es Computer gab gedreht worden war und durch die Satellitenschüssel der Ranger-Station übertragen wurde.
Vielleicht war die Welt draußen für die Hubschrauberbesatzungen und die Waldarbeiter nicht mehr aufregend – vielleicht waren der Himmel und der Wald ihr Büro, und das Fernsehen und alles, was drinnen lag, war interessanter für sie.
Womöglich war es aber auch der Regen, der sie einlullte.
Eigentlich sollten sie dankbar dafür sein. Die Motte hatte sich auf verschiedene Szenarien vorbereitet, einschließlich solcher, in denen die fünf Menschen in dem kleinen Gebäude mit der Satellitenschüssel umgebracht werden mussten. Doch der Regen würde es ihnen erlauben, weiterzuleben. Der Regen überdeckte Geräusche und machte die Sicht schlecht.
Ein Mann in der Station sah von Zeit zu Zeit in den Regen hinaus. Wünschte ihn weg. Es war derjenige, der bei Nicky gewesen war. Es war ein bisschen verwirrend, dass er nun hier saß.
Doch es war nicht wichtig. Nicky, der alles wusste, hatte gesagt, dass ein paar von ihnen Gott sehen und überleben könnten.
Die Motte machte sich ans Werk. Binnen weniger Momente hatten die Alouette und der Bell 212 kleine Defekte, die sie flugunfähig machten. Sie waren reparabel.
Aber leider nicht rechtzeitig.
J. C. trat wieder ans Fenster und starrte in die Dunkelheit hinaus. Er sprach nicht mit den anderen; das machte das Warten nur schlimmer. Also tat er so, als sähe er dem Regen zu – tat so, weil er den Regen überhaupt nicht sah. Er sah ein grausiges
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