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Grabesstille

Grabesstille

Titel: Grabesstille Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jan Burke
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Etwas aus einem primitiven Grab aufsteigen und um eine Umarmung betteln; er sah Kojoten an Marionettenschnüren tanzen, gehalten von einem Puppenmeister in einem Baum. Er schloss die Augen vor diesen Schreckbildern, doch zu seinem Entsetzen sah er sie jetzt nur noch deutlicher.
    Wie hielten David und Ben das aus? Er hatte ihnen bereits früher schon geholfen, aber es war noch nie so schlimm gewesen. Er hatte schon früher verweste Leichen gesehen und sich für gewappnet gehalten – doch die Toten, die sie zuvor gefunden hatten, waren Selbstmörder gewesen oder Personen, die sich beim Wandern verirrt hatten und umgekommen waren, oder Leute, die allein losgezogen und abgestürzt waren. Nicht angenehm, und ihm hatte jeder Einzelne Leid getan, aber – aber es war nicht wie das hier.
    Er empfand einen Hass gegen Nicholas Parrish, den er wie Galle in seinem Mund schmecken konnte.
    Dort oben, auf der Wiese, wo sie sie gefunden hatten, hatte er nicht so empfunden. Er war gelassen geblieben, hatte die Nerven behalten. Sogar als er ihre Leiche mit Andy durch den Regen getragen hatte, war es ihm noch nicht an die Nieren gegangen. Es fing erst an, ihm zuzusetzen, als sie am Flugzeug anlangten, nachdem der Pilot gesagt hatte, dass sie abfliegen müssten. Und erst seit er hier war, in seiner eigenen Station, in Sicherheit und Wärme, verlor er langsam die Fassung.
    Er würde der Hubschrauberbesatzung sagen, wo sie die Gruppe auf der zweiten Wiese finden konnten, und dann würde er sich zwei Wochen frei nehmen. Der Urlaub stand ihm zu. Vielleicht würde er sogar einen Psychiater aufsuchen. Der Gedanke störte ihn nicht. Wenn man Hilfe brauchte, suchte man sich welche. David hatte ihm das oft genug gesagt. Er hatte gemeint, dass es merkwürdiger wäre, diese Arbeit zu tun und sich nie davon betroffen zu fühlen.
    Es gab Spezialisten, die Therapien für Leute anboten, die an solchen Fällen gearbeitet hatten. Er würde David nach dem Namen von einem von ihnen fragen.
    Auf einmal zuckte er zusammen. Unwillkürlich flog seine Hand an die Kehle, als wollte er einen Laut zurückhalten. Aus dem Augenwinkel sah er, wie sich in der Dunkelheit etwas bewegte. Tatsächlich? Herrgott, war er nervös! Unter seiner Hand spürte er den Puls rasen. Er versuchte, durch das regennasse Fenster zu sehen. Nein, da draußen war nichts.
    Oder doch?
    Er konnte nicht länger hier stehen. Seine Beine würden ihn nicht mehr tragen. Verdammter Mist.
    Nein, so konnte er nicht leben – sich ducken und vor Schatten erschrecken. Er musste sich der Situation stellen – das war momentan die einzige Möglichkeit. Er würde jetzt hinausgehen und sich umsehen, sich vergewissern. Er wandte sich vom Fenster ab. Er zog seinen Parka an, und da seine Hände zitterten, als er versuchte, die Druckknöpfe zuzumachen, schob er sie in die Taschen, bis er die Tür aufzog. Er trat in den Regen hinaus und spähte in die Finsternis.
    Nichts.
    Die kühle Luft fühlte sich gut an, beruhigte ihn, bis –
    Da! Zwischen den Bäumen!
    Aber … nein, nichts.
    Nichts.
    Auf einmal ging hinter ihm die Tür auf, und er hörte sich selbst einen leisen Schreckensschrei ausstoßen.
    »J. C.? Was ist denn los, Mann?«
    Einer der Piloten.
    »Ich hab nur ein bisschen frische Luft gebraucht«, antwortete er mit nicht allzu fester Stimme. »Komm rein«, forderte der Pilot ihn auf.
    J. C. starrte in den Regen hinaus.
    »Jetzt komm schon rein, Mann.« Der Pilot hielt inne und fügte dann hinzu: »Denen fehlt schon nichts. Sie zelten bloß im Regen. Wir holen sie morgen in aller Frühe ab. Komm schon rein – heute Nacht kannst du sowieso nichts mehr tun.«
    Er folgte dem Piloten hinein und ignorierte die beklommenen Blicke, die die anderen wechselten. Er trat an seinen Schrank und holte frische Kleidung heraus. Dann ging er ins Badezimmer und zog sich aus, um zu duschen. Seine dritte Dusche heute Abend, und die anderen würden vermutlich schon darüber reden, doch das war ihm scheißegal. Er konnte immer noch den Gestank dieser Leiche an sich riechen, und er musste sich unbedingt säubern.
    Er schrubbte sich, bis seine Haut wund war, ließ das Wasser auf sich herunterprasseln und spülte sich Mund und Nase. Er stand da und ließ das Geräusch und das Gefühl des Wassers alles andere auslöschen, bis es einfach zu kalt wurde, um es noch länger auszuhalten. Er trocknete sich ab und zog frische Sachen an. Dann starrte er in den Spiegel. Er kannte den Mann nicht, der da sein Starren erwiderte, obwohl

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