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Grabesstille

Grabesstille

Titel: Grabesstille Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jan Burke
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den meinen war – aber vor allem, dass er in einer Welt, die mir immer weniger real vorkam, noch real war. Ich bedankte mich bei der Schwester und ging leise hinaus. Ich bat Frank, mich nach Hause zu bringen, wo ich trotz des ganzen Wirbels über und um uns traumlos in seinen Armen schlief.
     

30
     
    SAMSTAG MORGEN, 20. MAI
    Nachrichtenredaktion des Las Piernas News Express
     
    Unsere unselige Expedition in die Berge lieferte den größten Teil des Materials für den Vorderteil der Samstagsausgabe, der sich weitgehend wie eine gigantische Nachrufseite las.
    Meistens ist es am Samstagmorgen ziemlich ruhig in der Redaktion, doch als ich um halb zehn kam, herrschte größere Betriebsamkeit als sonst. Mittlerweise wussten alle Bürger, die Fernseh- oder Radiogeräte besaßen oder Zeitungen kauften, dass Nick Parrish trotz einer ausgedehnten Großfahndung nach wie vor auf freiem Fuß und Phil Newly nirgends zu finden war. Die Öffentlichkeit wusste außerdem, dass nach der Entdeckung der Leiche von Julia Sayre unbefugte (ein Wort, das besonders gern von Leuten benutzt wird, die sicher zu Hause gesessen hatten) Bestrebungen, eine zweite Leiche zu bergen, zu einer von Parrish gestellten Falle geführt und den Tod von sechs Angehörigen der Polizei von Las Piernas und einem Anthropologie-Dozenten des Las Piernas College verursacht hatten.
    O David.
    Ein Anthropologie-Dozent lag in kritischem Zustand im St. Anne’s Hospital. Eine Reporterin des Express hatte leichte Verletzungen erlitten. Andere Mitglieder der Gruppe, darunter ein Suchhund, waren unverletzt geblieben.
    Ich dachte an Bingle, der bei uns bleiben sollte, bis andere Absprachen getroffen werden konnten, und der nun teilnahmslos neben Davids Pullover lag. Ich dachte an den Blick, den ich auf J. C.s Gesicht gesehen hatte. Andy war mir noch nicht begegnet, aber ich war mir ziemlich sicher, dass es ihm nicht viel besser ging. »Unverletzt.«
    Frank saß wenige Meter neben mir und las ein Taschenbuch. Immer wieder sah er auf, dann lächelte ich ihn an und blickte wieder auf den nackten Computerbildschirm. Oder auf meine Finger. Meine Hände zitterten immer noch, aber ich behielt die Finger auf der Tastatur und hoffte auf ein Wunder.
    John hatte es Frank nur ungern erlaubt, sich in der Redaktion aufzuhalten, aber da Parrish auf freiem Fuß und ich mit den Nerven am Ende war, war ich noch nicht bereit, ohne Frank irgendwohin zu gehen. Außerdem verfügten wir momentan nur über ein Auto, also musste mich Frank ohnehin herbringen, wenn John mich in der Redaktion haben wollte.
    Lydia war gekommen, nachdem sie ihre Samstagspläne mit ihrem Freund aufgegeben hatte, aber man durfte annehmen, dass es ihr ganz recht war, sechs Tage hintereinander in der Redaktion zu sitzen, anstatt mit einem maulfaulen Freund zusammenzusein. Als ich monierte, dass sie sich von John nicht hätte bedrängen lassen sollen, erklärte sie mir, das sei mitnichten der Fall gewesen, und ich könnte sie genauso wenig bedrängen.
    Gegen elf saß ich schon über eine Stunde vor meiner Tastatur. Ich war früher gekommen, weil ich, wie ich Frank erklärt hatte, diesen Teil hinter mich bringen wollte. Aber ich brachte überhaupt nichts hinter mich – neunzig Minuten, und alles, was ich vorzuweisen hatte, war ein blinkender Cursor auf einem leeren Bildschirm.
    Lydia kam zu mir herüber. Frank sah auf und wandte sich dann wieder seinem Buch zu.
    Sie machte eine Geste, indem sie eine Hand hin und her schwenkte und erst auf mich, dann auf sich selbst zeigte. Lydias Eltern waren italienische Einwanderer. Ich hatte die gleiche Geste bereits bei ihrer Mutter gesehen. Wir beide brauchen einander doch nichts vorzumachen, hieß das.
    »Wir kennen uns seit der dritten Klasse, stimmt’s?«, sagte Lydia.
    »Stimmt. Aber das sagst du nur zu mir, wenn du ganz schonungslos werden willst.«
    Sie lachte. Ich nicht.
    »Ich kann jetzt keine Brutalität vertragen, Lydia. Nicht einmal im Namen der Aufrichtigkeit.«
    »Okay Ich werde versuchen, sanft vorzugehen.«
    Diesmal lachte ich. Frank beobachtete uns jetzt.
    »Du warst in dieser Situation«, sagte sie, »in der alles außer Kontrolle geriet.«
    Ich hörte ein leises Klappern, sah auf meine zitternden Hände hinab und nahm die Finger von der Tastatur.
    »Du hast getan, was du konntest«, fuhr Lydia fort, »und trotzdem ist alles schief gegangen.«
    »Es war die Hölle«, stimmte ich zu.
    »Wenn du nicht über die Ereignisse schreiben willst«, sagte sie, »halte ich

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