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Grabesstille

Grabesstille

Titel: Grabesstille Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jan Burke
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ihre Übertragungswagen am Ende des Blocks aufzustellen. Ihre Nachbarn jammern, dass Reporter in Hubschraubern über dem Viertel kreisen. Sie kommen morgen rein.«
    Ich machte mir nicht die Mühe, mit ihm zu streiten. Mir war klar, dass ihm nichts – schon gar nicht meine Gesundheit – wichtiger war als diese Geschichte. Das ist das Problem mit den Nachrichten: Sie können nicht warten.
    Und so machte sich Mark Notizen und stellte Fragen, doch schon bald schweiften meine Gedanken ab. Mark sah immer wieder zu John hinüber.
    »Sie reden nicht gerade besonders logisch«, beschwerte sich John schließlich.
    »Nein. Müsste Morry nicht hier sein?«, fragte ich. Morry war der leitende Nachrichtenredakteur.
    »Während Sie weg waren, hat er die Zeitung verlassen. Daher erfülle ich vorübergehend beide Funktionen.«
    Unter anderen Umständen hätte mich diese Neuigkeit erschüttert und mich meinerseits zu Dutzenden von Fragen veranlasst. Doch ich gähnte nur und sagte: »Oh.«
    Die beiden Männer wechselten erneut Blicke.
    Mark fing an, mir Fragen nach den Männern zu stellen, die umgekommen waren. Aber jedes Mal, wenn ich mehr als nur ihre Namen sagte, vergaß ich irgendwie, wovon ich sprach. Immer wieder hörte ich die Explosion, sah Fleischfetzen und Knochen überall verstreut, roch Blut, Rauch und Erde.
    So lebhaft ich diese Bilder auch vor Augen hatte, ich konnte gegenüber Mark und John nicht von ihnen sprechen. Es war, als gäbe es eine Blockade zwischen meinem Verstand und meinem Mund – ich konnte einfach die Worte nicht bilden, die solche Dinge vermittelt hätten. Und schon bald lernte mein Verstand, von dem Bild, über das Mark sprechen wollte, zu etwas anderem zu springen, zum Beispiel wie der Himmel ausgesehen hatte, als ich zwischen den Felsen saß, wie sich mein selbst gemachter Speer in meiner Hand angefühlt hatte, wie kühl das Wasser im Bach war.
    Mark fragte: »Wie hat Parrish seinen Wachen die Waffe abgenommen?«
    »Merrick und Manton«, sagte ich.
    »Ja, hast du gesehen, wie er sie erschossen hat?«
    Schweigen.
    »Glaubt ihr, ich kriege eine Darminfektion?«, fragte ich.
    »Das sieht Ihnen gar nicht ähnlich, Kelly«, sagte John missbilligend.
    »Nein«, stimmte ich zu. »Ich achte normalerweise sehr darauf, das Wasser zu filtern.«
    »Das habe ich nicht gemeint. Sie sind nicht Sie selbst.«
    Ich schwieg eine Weile und sagte dann: »Ich weiß. Ich kann auch nicht sagen, wann ich wieder ›ich selbst‹ sein werde.«
    »Natürlich nicht«, erwiderte er barsch. »Sie haben Entsetzliches erlebt. Aber Sie müssen nach vorn blicken.«
    Mark schüttelte ungläubig den Kopf.
    »Muss sie!«, protestierte John.
    »Lassen Sie ihr vierundzwanzig Stunden, um sich in Selbstmitleid zu suhlen«, schalt ihn Mark. »Ich wette, sie ist rechtzeitig wieder hergestellt, um die Titelseite am Sonntag zu retten. Sie wissen schon – sich an den eigenen Haaren aus dem Sumpf ziehen und so. Bestimmt sprudelt sie über, weil sie unbedingt morgen bis Sonnenaufgang jemandem all ihre düstersten Schrecknisse erzählen will.«
    »Ich kann nicht – ich will nie darüber sprechen«, erklärte ich. »Ich glaube, er will das, und deshalb tue ich es nicht.«
    »Ja, natürlich will Mark, dass Sie darüber sprechen!«, sagte John. »Aber warum wollen Sie nicht?«
    »Nicht Mark. Parrish.«
    Meine Antwort verblüffte ihn.
    Er musterte mich, sah auf die Uhr und sagte: »Schlafen Sie erst mal. Das haben Sie jetzt am nötigsten. Ein bisschen Schlaf. Ich habe inzwischen genug von Ihnen gehört, um die morgige Ausgabe zu füllen. Wir sehen uns dann morgen Nachmittag.« Er studierte mich ein bisschen eingehender und sagte: »Ich bitte auch Lydia, reinzukommen.«
    Ich kenne Lydia Ames, die in der Lokalredaktion arbeitet, seit der Grundschule.
    »Danke«, sagte ich und brach in Tränen aus.
    »O Gott!«, stöhnte John.
    In diesem Moment kam Frank in den Raum und sah mich weinen. Angesichts seines zornigen Blicks hielten Mark und John ergeben die Hände in die Höhe. Das reichte, um meine Tränen versiegen zu lassen.
    »Sie gehört ganz Ihnen«, knurrte John, und sie gingen.
    Frank kam nahe ans Bett und nahm meine Hand, die Rechte, an der keine Infusion hing. Sachte fuhr er mit dem Daumen über meine Knöchel. Aber ich nahm eine Spannung an ihm wahr, die mir zeigte, dass dies keine Liebesgeste war. Und seine graugrünen Augen waren sorgenvoll.
    »Was ist denn?«, fragte ich und setzte mich auf. »Was ist los?«
    Er atmete schwer aus und

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