Grabesstille
dunkle Haare und blaue Augen. Vielleicht hatte Parrish mehr als nur einen Zweck im Sinn, nachdem er erfahren hatte, dass ich Reporterin war.
»Und er hat dich ausgewählt«, sagte Lydia, was mich verblüffte, bis ich begriff, dass sie sich auf meine letzte Äußerung bezog.
»Ja.«
»Wenn du damit Recht hast«, sagte sie, »und er etwas Besonderes von dir erwartet, dann enttäusch ihn. Du bist die Einzige, die dazu in der Lage ist.«
Es kostete mich eine weitere halbe Stunde, bis ich endlich anfangen konnte. Aber nachdem ich einmal begonnen hatte, hörte alles andere auf zu existieren. Nachdem ich ihn einmal namentlich genannt hatte, sprach ich jedes Mal, wenn ich Parrish erwähnen musste, von dem »Gefangenen«. Ich stellte fest, dass ich gar nicht so oft von ihm sprechen musste.
Ich schrieb über die letzten Tage von Merrick, Manton, Duke und Earl, von Bob Thompson und Flash Burden, und von David. Ich schrieb über Earls Humor und davon, dass Duke ein Pferdchen für seinen Enkel schnitzte. Dabei fiel mir ein, dass ich das Schnitzwerk seiner Familie bringen musste. Ich schrieb, wie Flash Wildblumen fotografiert, wie Merrick mit Bingle gespielt und wie Manton versucht hatte, sich an den neuen Haarschnitt seiner Frau zu gewöhnen, indem er ein Foto studierte. Ich versuchte, einen Eindruck von ihnen zu vermitteln, der sie zu mehr machen würde als nur Namen auf einer Liste. Vielleicht würde John oder irgendein Textredakteur alles zusammenstreichen oder einen »Suche und Ersetze«-Befehl anwenden, um aus »der Gefangene«
»Nicholas Parrish« zu machen.
Es spielte keine Rolle. Ich konnte nur tun, was ich tun konnte.
Ich schrieb, wie Julia Sayre gefunden worden war, und hielt dann inne, um in unserem Archiv nach einer Nina Poolman zu suchen.
Das Foto einer dunkelhaarigen, blauäugigen, zweiundvierzigjährigen Frau erschien auf dem Bildschirm. Vermisst. Seit drei Jahren.
Nirgends stand, dass sie je gefunden worden war.
Ich saß da, starrte auf ihr Foto und wusste, dass Parrish in meinem Artikel lesen wollte, dass er mir ihren Namen genannt hatte.
»Frank?«, sagte ich.
»Ja?«
»Das Opfer in dem zweiten Grab – glaubst du, dass die Zähne die Explosion unbeschadet überstanden haben?«
»Ich bin mir nicht sicher. Zähne sind allerdings ziemlich haltbar. Warum?«
»Falls ja und wenn du die zahnärztlichen Unterlagen dieser Frau in die Hand bekommst, dann glaube ich, kannst du einen Fall als gelöst betrachten.«
In meinem Artikel schrieb ich die Wahrheit – das Opfer im zweiten Grab konnte noch nicht identifiziert werden.
Ich speicherte den Artikel ab, stand auf und sagte zu Lydia: »Richte John aus, dass ich, wenn ich morgen die Zeitung aufschlage und Nick Parrishs Namen x-mal in meinem Artikel stehen sehe, nicht wiederkomme. Nie wieder. Was vielleicht für keinen von uns ein allzu großer Verlust wäre.«
»Mach ich«, sagte sie. »Alles in Ordnung?«
Ich schüttelte den Kopf und holte tief Atem. »Sag John, ich habe noch mehr zu schreiben, aber –«
»Du bietest es gern woanders an«, unterbrach sie mich. »Ich glaube, er wird’s schon kapieren.«
Ich schickte Mark eine kurze E-Mail, in der ich ihm dafür dankte, dass er mich am Tag zuvor vertreten hatte, und loggte mich aus.
Das Telefon klingelte.
»Kelly«, meldete ich mich.
»Da ist – da ist eine Person, die Sie sprechen möchte«, sagte der Wachmann vom Empfang.
»Eine Person?«
»Sie sagt, sie hat eine Verabredung mit Ihnen. Gillian Sayre.«
Vier Uhr.
»Ich komme gleich runter«, sagte ich.
»Soll ich dich begleiten?«, fragte Frank.
Ich schüttelte den Kopf. »Ich glaube, das muss ich alleine durchstehen.«
31
SAMSTAG, 20. MAI, SPÄTER NACHMITTAG
Las Piernas News Express
»Sie sehen müde aus«, sagte ich, als ich sie in einen kleinen Besprechungsraum neben der Halle bat.
»Ich habe letzte Nacht nicht viel geschlafen«, erwiderte sie.
Natürlich nicht, dachte ich, und fragte mich, ob ich es mir verkneifen könnte, im Lauf der nächsten paar Minuten weitere plumpe Bemerkungen fallen zu lassen.
Der Raum war still, abgesehen vom vereinten Summen der Leuchtröhren an der Decke und der Klimaanlage. Falls es irgendwo ein Grauspektrum gibt, so hatte man im Dekor dieses Raumes – Teppich, Wände, Stühle und Tisch – versucht, es einzufangen. Eine Farbe, verschiedene Schattierungen. Es passte zu meiner Stimmung.
Als wir saßen, fragte Gillian: »Hat man Parrish schon gefunden?«
»Nein. Aber ich glaube nicht,
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