Grabkammer
verändert hatte.
Sie hatten die mexikanische Grenze überquert, und während sie mit ihrem Wagen durch das ausgedörrte Buschland von Baja California rasten, zitterte Josephine immer noch vor Angst.
Doch Medea war seltsam ruhig und konzentriert und hielt das Lenkrad mit festem Griff. Josephine begriff nicht, wie ihre Mutter so gefasst sein konnte. Sie verstand so vieles nicht. An diesem Tag sah sie ihre Mutter zum ersten Mal so, wie sie wirklich war.
An diesem Tag wurde ihr klar, dass sie die Tochter einer Löwin war.
»Alles, was ich getan habe, habe ich für dich getan«, sagte Medea, während sie über den hitzeflimmernden Asphalt dahinjagten. »Ich habe es getan, damit wir zusammenbleiben können. Wir sind eine Familie, mein Schatz, und eine Familie muss zusammenhalten.« Sie sah ihre verängstigte Tochter an, die neben ihr in ihrem Sitz kauerte wie ein verletztes Tier.
»Erinnerst du dich an das, was ich dir über die Kernfamilie erzählt habe? Wie die Anthropologen sie definieren?«
In ihrem Haus war gerade ein Mann verblutet. Sie hatten vor Kurzem erst die Leiche beseitigt und waren außer Landes geflohen. Und ihre Mutter hielt ihr seelenruhig Vorträge über anthropologische Theorien?
Medea ignorierte den ungläubigen Blick ihrer Tochter und fuhr fort: »Jeder Anthropologe wird dir sagen, dass eine Kernfamilie nicht aus Vater, Mutter und Kind besteht. Sondern vielmehr aus Mutter und Kind. Väter kommen und gehen. Sie stechen in See oder ziehen in den Krieg, und oft kehren sie nie nach Hause zurück. Aber Mutter und Kind sind untrennbar miteinander verbunden. Mutter und Kind bilden die ursprüngliche Einheit. Wir sind diese Einheit, und ich werde tun, was immer erforderlich ist, um sie zu schützen, um uns zu schützen. Deswegen müssen wir fliehen.«
Und so waren sie geflohen. Sie hatten eine Stadt verlassen, die sie beide liebten; eine Stadt, die drei Jahre lang ihre Heimat gewesen war – genug Zeit, um Freundschaften zu schließen, um Bindungen aufzubauen.
In einer einzigen Nacht, mit einem einzigen Schuss, waren alle diese Bindungen für immer zerrissen worden.
»Schau mal ins Handschuhfach«, hatte Medea gesagt. »Da liegt ein Umschlag drin.«
. Die Tochter, immer noch wie benommen, hatte den Umschlag gefunden und ihn geöffnet. Er enthielt zwei Geburtsurkunden, zwei Pässe und einen Führerschein. »Was ist das?«
»Dein neuer Name.«
Sie schlug den Pass auf und sah ihr eigenes Foto. Sie erinnerte sich dunkel, dass sie es vor Monaten auf Drängen ihrer Mutter hatte machen lassen. Dass es für einen Pass war, hatte sie nicht geahnt.
»Was denkst du?«, fragte Medea.
Die Tochter starrte den Namen an. Josephine.
»Er ist schön, nicht wahr?«, meinte Medea. »Das ist dein neuer Name.«
»Wieso brauche ich denn einen neuen Namen? Warum machen wir das schon wieder?« Die Stimme des Mädchens überschlug sich beinahe. »Warum?«
Medea bremste ab und hielt am Straßenrand. Sie nahm das Gesicht ihrer Tochter in beide Hände und zwang sie, ihr in die Augen zu sehen. »Wir tun das, weil wir keine Wahl haben.
Wenn wir nicht fliehen, werden sie mich ins Gefängnis werfen.
Sie werden dich mir wegnehmen.«
»Aber du hast doch nichts getan! Du hast ihn doch nicht getötet! Das war ich!«
Medea packte die Schultern ihrer Tochter und schüttelte sie heftig. »Das darfst du nie einem Menschen erzählen, hast du mich verstanden? Niemals. Wenn sie uns je erwischen, wenn die Polizei uns jemals findet, dann musst du ihnen sagen, dass ich ihn erschossen habe. Sag ihnen, dass ich den Mann erschossen habe, nicht du.«
»Warum willst du, dass ich lüge?«
»Weil ich dich liebe und weil ich nicht will, dass du wegen dieser Sache leiden muss. Du hast ihn erschossen, um mich zu beschützen. Jetzt beschütze ich dich. Also versprich mir, dass du dieses Geheimnis für dich behalten wirst. Versprich es mir.«
Und ihre Tochter hatte es ihr versprochen, obwohl die Ereignisse jener Nacht ihr noch in aller Deutlichkeit vor Augen standen: ihre Mutter, ausgestreckt auf dem Boden des Schlafzimmers; der Mann, der auf sie herabblickte; die Pistole auf dem Nachttisch, metallisch glänzend und fremdartig. Wie schwer sie sich angefühlt hatte, als sie sie in die Hand genommen hatte. Wie ihre Hände gezittert hatten, als sie abgedrückt hatte. Sie, nicht ihre Mutter, hatte den Eindringling getötet. Das war ihr Geheimnis; das Geheimnis, das nur sie beide kannten.
»Niemand soll je erfahren, dass du ihn getötet
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