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Grabkammer

Grabkammer

Titel: Grabkammer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tess Gerritsen
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hast«, hatte Medea gesagt. »Das ist mein Problem, nicht deines. Es wird nie deines sein. Du wirst heranwachsen und dein Leben leben. Du wirst glücklich sein. Und diese Geschichte wird für immer im Dunkel der Vergangenheit ruhen.«
    Aber jetzt ist sie ans Tageslicht gekommen, dachte Josephine, als sie in ihrer Zelle lag. Die Ereignisse jener Nacht haben mich eingeholt.
    Die Lichtstreifen zwischen den Brettern, mit denen das Fenster vernagelt war, wurden allmählich heller, als der Morgen in den Tag überging. In dem schwachen Schein konnte sie gerade eben die Umrisse ihrer Hand erkennen, wenn sie sie direkt vor die Augen hielt. Noch ein paar Tage in diesem Keller, dachte sie, und ich werde mich wie eine Fledermaus im Dunkeln zurechtfinden können.
    Sie setzte sich auf und schüttelte sich, um die Morgenkälte zu vertreiben. Draußen hörte sie die Kette rasseln, als der Hund aus seinem Napf trank. Sie tat es ihm gleich und nahm einen Schluck aus ihrem Wasserkrug. Vor zwei Nächten, als ihr Entführer gekommen war, um ihr die Haare abzuschneiden, hatte er ihr auch eine frische Tüte Brot dagelassen, und sie war mehr als nur verärgert, als sie die kleinen Löcher in der Plastikhülle entdeckte. Die Mäuse waren an ihrem Brot gewesen. Sucht euch doch gefälligst euer eigenes Futter, dachte sie, während sie gierig zwei Scheiben hinunterschlang. Ich brauche die Energie; ich muss eine Möglichkeit finden, aus diesem Loch zu entkommen.
    Ich werde es für uns tun, Mom. Für unsere ursprüngliche Einheit. Du hast mir beigebracht, wie man überlebt, also werde ich auch überleben. Weil ich deine Tochter bin.
    Während die Stunden verstrichen, ließ sie ihre Muskeln spielen und ging immer wieder den Ablauf durch. Ich bin die Tochter meiner Mutter. Das war ihr Mantra. Ein ums andere Mal humpelte Josephine mit geschlossenen Augen durch ihre Zelle und prägte sich ein, wie viele Schritte es von der Matratze bis zur Wand und von der Wand bis zur Tür waren. Die Dunkelheit würde ihre Freundin sein, wenn sie sie nur zu nutzen verstand.
    Draußen begann der Hund zu bellen.
    Sie blickte auf, und ihr Herz schlug plötzlich wie wild, als über ihr knarrende Schritte zu hören waren.
    Er ist wieder da. Es ist so weit – das ist meine Chance. Sie ließ sich auf die Matratze sinken und rollte sich wie ein Embryo zusammen, nahm die universelle Haltung der Verängstigten und Besiegten ein. Er würde eine Frau sehen, die aufgegeben hatte, eine Frau, die bereit war zu sterben. Eine Frau, die ihm keine Schwierigkeiten machen würde.
    Der Riegel quietschte. Die Tür ging auf.
    Sie sah den Strahl seiner Taschenlampe in der Türöffnung aufleuchten. Er trat ein, stellte einen vollen Wasserkrug auf den Boden und legte eine neue Brottüte daneben. Sie hielt sich vollkommen still. Soll er doch rätseln, ob ich vielleicht tot bin.
    Seine Schritte kamen näher, und sie hörte seinen Atem in der Dunkelheit über ihrer Matratze. »Die Zeit läuft ab, Josephine«, sagte er.
    Sie rührte sich nicht, auch dann nicht, als er sich herabbeugte und mit der Hand über ihren kahl rasierten Schädel strich.
    »Liebt sie dich denn nicht? Will sie dich nicht retten?
    Warum kommt sie nicht?«
    Sag kein Wort. Beweg keinen Muskel. Lass ihn noch näher kommen.
    »All die Jahre hat sie es geschafft, sich vor mir zu verstecken.
    Wenn sie sich jetzt nicht herauswagt, ist sie ein Feigling. Nur ein Feigling würde die eigene Tochter sterben lassen.«
    Sie spürte, wie die Matratze sich durchbog, als er sich darauf setzte.
    »Wo ist sie?«, fragte er. »Wo ist Medea?«
    Ihr Schweigen frustrierte ihn. Er packte ihr Handgelenk und sagte: »Vielleicht waren die Haare noch nicht genug. Vielleicht ist es Zeit, ihnen ein anderes Souvenir zu schicken. Ob ein Finger genügen würde?«
    Nein – O Gott, nein! Die helle Panik bestürmte sie, die Hand wegzuziehen, um sich zu treten und zu schreien, alles nur, um der drohenden Tortur zu entgehen. Aber sie blieb stocksteif liegen, spielte weiter das von Angst und Verzweiflung gelähmte Opfer. Er leuchtete ihr mit der Taschenlampe direkt ins Gesicht, und geblendet, wie sie war, konnte sie seine Miene nicht lesen, konnte in den schwarzen Höhlen seiner Augen nichts erkennen. Er war so darauf konzentriert, ihr eine Reaktion zu entlocken, dass er nicht sah, was sie in ihrer freien Hand hielt. Er merkte nicht, wie ihre Muskeln sich straff anspannten wie die Sehne eines Bogens.
    »Wenn ich anfange zu schneiden«, sagte er, »dann wirst du

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