Grabkammer
vielleicht endlich den Mund aufmachen.«
Ihre Hand schnellte nach oben, und blind rammte sie ihm den Absatz des hochhackigen Schuhs ins Gesicht. Sie hörte, wie die Spitze auf Fleisch traf, und mit einem Schrei ging er hinterrücks zu Boden.
Sie schnappte sich die Taschenlampe und schlug sie mit aller Kraft auf den Boden. Die Birne zersprang, und es wurde schwarz um sie herum. Die Dunkelheit ist meine Freundin. Sie rollte sich zur Seite und sprang auf. Irgendwo ganz in der Nähe konnte sie ihn hören, wie er sich aufzurappeln versuchte, doch sie sah ihn nicht, und er sah sie nicht. Sie waren beide gleich blind.
Aber nur ich kann im Dunkeln die Tür finden.
All die Probedurchläufe, die minuziösen Vorbereitungen, hatten die nächsten Bewegungen in ihr Gehirn eingebrannt. Vom Rand der Matratze waren es drei Schritte bis zur Wand. Dann noch einmal sieben Schritte an der Wand entlang, und sie hätte die Tür erreicht. Obwohl ihr Gipsbein sie hemmte, fand sie mühelos ihren Weg in der Dunkelheit. Sie maß sieben Schritte ab. Acht Schritte. Neun ’«
Wo ist die verdammte Tür?
Sie konnte seinen schweren Atem hören, sein frustriertes Stöhnen, als er sich zu orientieren versuchte, als er sie in dem stockfinsteren Raum zu orten versuchte.
Mach kein Geräusch. Verrate ihm nicht, wo du bist. Ganz langsam drehte sie sich um. Sie wagte kaum zu atmen und setzte mit größter Behutsamkeit einen Fuß vor den anderen, um nicht ihre Position zu verraten. Ihre Hand strich über glatten Beton, und dann tasteten ihre Finger Holz.
Die Tür.
Sie drehte den Knauf und drückte. Das plötzliche Quietschen der Scharniere schien ohrenbetäubend laut.
Beweg dich!
Schon hörte sie, wie er sich auf sie stürzte, schnaubend wie ein Bulle. Mit einem Satz war sie draußen und knallte die Tür hinter sich zu. Im gleichen Moment, als er dagegenkrachte, schob sie den Riegel vor.
»Du kannst nicht entkommen, Josephine!«, schrie er.
Sie lachte, und es klang wie das Lachen einer Fremden, ein wildes, triumphierendes Bellen. »Aber ich bin gerade entkommen, du Miststück!«, rief sie zurück.
»Das wird dir noch leidtun! Wir wollten dich am Leben lassen, aber das kannst du jetzt vergessen! Das kannst du vergessen!«
Er begann zu schreien und in ohnmächtiger Raserei auf die Tür einzuschlagen, während sie sich langsam eine dunkle Treppe hinauf tastete. Ihr Gips schlug dumpf gegen die Holzstufen. Sie wusste nicht, wohin die Treppe führte, und es war hier fast so finster wie in ihrem Betonbunker. Aber mit jeder Stufe, die sie erklomm, schien die Treppe heller zu werden.
Mit jedem Schritt wiederholte sie ihr Mantra: Ich bin die Tochter meiner Mutter. Ich bin die Tochter meiner Mutter.
Als sie auf halbem Weg nach oben war, erblickte sie am oberen Treppenabsatz ein Rechteck aus dünnen Lichtstreifen – eine geschlossene Tür. Erst als sie sich dem Ausgang näherte, wurde ihr plötzlich bewusst, was er da vorhin gesagt hatte.
Wir wollten dich am Leben lassen. Wir.
Die Tür vor ihr wurde plötzlich aufgerissen, und das grelle Licht blendete sie. Sie blinzelte, als ihre Augen sich an die Helligkeit gewöhnten und sie sich mühte, die Gestalt zu erkennen, die da in der erleuchteten Türöffnung stand.
Und dann erkannte sie das Gesicht.
Zwanzig Jahre der Vernachlässigung, mit strengen Wintern und Frostaufbrüchen, hatten von der privaten Zufahrtsstraße des Hilzbrich Institute nur eine rissige, von Baumwurzeln unterwanderte Asphaltpiste übrig gelassen. Jane hielt an dem Schild mit der Aufschrift ANWESEN ZU VERKAUFEN und ließ den Motor ihres Wagens leer laufen, während sie hin und her überlegte, ob sie über diese kaputte Straße fahren wollte.
Keine Kette versperrte die Einfahrt; jeder konnte in das Grundstück einfahren.
Jeder konnte dort auf sie warten.
Sie zog ihr Handy aus der Tasche und sah, dass sie noch Empfang hatte. Sie spielte mit dem Gedanken, Verstärkung vom örtlichen Revier anzufordern, kam aber dann zu dem Schluss, dass sie sich damit nur in Grund und Boden blamieren würde. Sie wollte nicht, dass die Kleinstadtpolizisten sich über die Kripo-Kollegin aus der Großstadt lustig machten, die eine Eskorte brauchte, damit sie sich im großen dunklen Wald von Maine nicht fürchten musste. O ja, Detective, diese Stinktiere und Stachelschweine können wirklich verdammt gefährlich werden.
Sie fuhr los.
Ihr Wagen rumpelte im Schritttempo über den aufgebrochenen Belag, und Zweige, die in die Straße hineinragten,
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