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Grabkammer

Grabkammer

Titel: Grabkammer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tess Gerritsen
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Hilzbrich ihr erzählt. Es war sehr wahrscheinlich, dass der Junge vor Jahren auch diesen Weg gegangen war. Bei dem Gedanken, sich in diesen Wald hineinzuwagen, schlug ihr Herz schneller. Sie sah auf die Reifenspuren. Von dem Wagen war nichts zu sehen, aber der Fahrer könnte jederzeit zurückkommen. Sie spürte das Gewicht ihrer Waffe an ihrer Hüfte, klopfte aber dennoch einmal mit der flachen Hand auf das Holster – eine automatische Bewegung, um sich zu vergewissern, dass sie die Pistole griffbereit hatte.
    Dann folgte sie dem Wanderweg, der so zugewuchert war, dass sie mehr als einmal in die Irre ging und umkehren musste, um den Pfad wiederzufinden. Das Laubdach wurde dichter, bis kaum noch ein Sonnenstrahl hindurchdrang. Sie warf einen Blick auf ihr Handy und stellte mit Unbehagen fest, dass sie kein Netz mehr hatte. Als sie sich umdrehte, blickte sie auf eine scheinbar undurchdringliche Phalanx von Bäumen. Vor ihr schien sich der Wald jedoch zu lichten, und sie sah Flecken von Sonnenlicht.
     
    Sie steuerte auf die Lichtung zu, vorbei an toten oder sterbenden Bäumen, von denen zum Teil nur hohle Stümpfe übrig waren. Plötzlich gab der Boden unter ihrem Fuß nach, und sie versank bis zum Knöchel im Schlamm. Als sie den Fuß herauszog, hätte sie fast ihren Schuh verloren. Angewidert betrachtete sie ihre verdreckten Hosenaufschläge und dachte: Ich hasse den Wald. Ich hasse die freie Natur. Ich bin Polizistin, keine Waldhüterin.
    Dann entdeckte sie den Abdruck: ein Männerschuh, Größe 43 oder 44.
    Jedes Rascheln, jedes Käfersummen klang plötzlich unheimlich laut. Sie sah weitere Abdrücke, die vom Weg abgingen, und sie folgte ihnen, vorbei an hoch aufragenden Rohrkolben.
    Es kümmerte sie nicht mehr, dass ihre Schuhe klatschnass und ihre Hosenbeine mit Schlamm bespritzt waren. Sie sah nur noch diese Fußspuren, die tiefer und tiefer ins Moor hineinführten. Inzwischen hatte sie völlig die Orientierung verloren und wusste nicht mehr, wo sie den Wanderweg verlassen hatte.
    Am Stand der Sonne sah sie, dass es schon weit nach Mittag war, und es war auffallend still geworden. Kein Vogel sang, kein Wind rauschte, sie hörte nichts als das Sirren der Mücken, die um ihr Gesicht kreisten.
    Die Spur bog unvermittelt zur Seite ab und führte einen Hang hinauf in trockeneres Gelände.
    Sie hielt inne, verwirrt durch die plötzliche Richtungsänderung, bis sie den Baum bemerkte. Um seinen Stamm war ein Nylonseil gebunden, dessen anderes Ende sich den Hang hinunterzog und im teebraunen Moorwasser verschwand.
    Sie zog an dem Seil und spürte einen Widerstand. Zentimeter um Zentimeter tauchte aus der braunen Brühe auf. Sie zog jetzt mit aller Kraft, stemmte sich mit ihrem ganzen Gewicht dagegen, während mehr und mehr Seil zum Vorschein kam, umschlungen von Pflanzen teilen. Und dann brach plötzlich etwas an die Oberfläche, bei dessen Anblick sie einen Schrei ausstieß und entsetzt zurückprallte. Sie sah für einen kurzen Moment ein hohläugiges Gesicht, das zu ihr aufstarrte wie eine groteske Wassernymphe.
    Dann sank es langsam ins Moor zurück.
     
    Die Sonne ging schon unter, als die Taucher der Maine State Police mit der Durchsuchung des Moors fertig waren. Das Wasser hatte sich als nur brusttief erwiesen; vom trockenen Uferdamm aus hatte Jane zugesehen, wie die Männer zwischendurch immer wieder kurz aufgetaucht waren, um sich zu orientieren oder einen gefundenen Gegenstand genauer zu inspizieren. Das Wasser war zu trüb, um beim Tauchen irgendetwas erkennen zu können, und so waren sie gezwungen, mit bloßen Händen im Schlamm und den verrottenden Pflanzenteilen zu wühlen. Jane war heilfroh, dass sie diesen scheußlichen Job nicht selbst übernehmen musste.
    Umso mehr, als sie sah, was die Taucher schließlich aus dem Moor zogen.
    Die entblößte Frauenleiche lag jetzt auf einer Plastikplane, und aus ihrem mit Moosstückchen gesprenkelten Haar rann schwarzes Wasser. Ihre Haut war von den Gerbstoffen so stark verfärbt, dass auf den ersten Blick weder ihre ethnische Zugehörigkeit noch eine offensichtliche Todesursache zu erkennen waren. Eines aber wussten sie: Ihr Tod war kein Unfall gewesen – die Leiche war mit einem Sack voller großer Steine beschwert worden. Jane blickte in das geschwärzte Gesicht der Frau, dessen Züge in einem Ausdruck höchster Qual erstarrt waren, und sie dachte: Ich hoffe nur, dass du schon tot warst, als er dir den Sack mit den Steinen um die Taille band. Als er dich die

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