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Grabkammer

Grabkammer

Titel: Grabkammer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tess Gerritsen
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ein anderes Versteck …«
    »Wo bist du jetzt?«, fiel ihr Frost ins Wort.
    »Ich bleibe über Nacht hier. Ich will morgen bei der Obduktion dabei sein.«
    »Ich meine, wo du jetzt in diesem Moment bist.«
    »Ich will gerade in einem Motel einchecken. Wieso?«
    »Wie heißt das Motel?«
    »Hawthorn, glaube ich. Es muss hier ganz in der Nähe sein.«
    »Okay, wir sehen uns in ein paar Stunden.«
    »Du kommst nach Maine?«
    »Ich bin schon unterwegs. Und es kommt noch jemand mit.«
    »Wer?«
    »Darüber reden wir, wenn wir dort sind.«
     
    Jane machte noch einen Zwischenstopp am Drugstore im Ort, um sich Unterwäsche und Socken zum Wechseln zu kaufen, und holte sich anschließend an einem Imbiss eine Salamipizza.
    Während die Hose, die sie im Waschbecken gereinigt hatte, zum Trocknen im Bad hing, saß sie in ihrem Zimmer im Hawthorn Motel und las Jimmy Ottos Akte. Sie bestand aus drei Ordnern, einer für jedes der drei Jahre, die er als Schüler am Hilzbrich Institute verbracht hatte. Nein, nicht als Schüler – als Insasse, dachte sie, als sie an den hässlichen Betonbau tief im Wald zurückdachte. Ein Ort, an dem man Jungen sicher verwahrte und von der Gesellschaft isolierte – Jungen, die kein Vater allzu nahe an seine Töchter herangelassen hätte.
    Und für keinen hatte das mehr gegolten als für Jimmy Otto.
    Sie hielt inne, als sie auf das Protokoll einer privaten Therapiesitzung stieß. Jimmy war damals erst sechzehn Jahre alt gewesen, und er hatte Folgendes gesagt:
    Als ich dreizehn war, habe ich mal in einem Geschichtsbuch ein Bild von einem Konzentrationslager gesehen. Da waren die ganzen Frauen, die sie in den Gaskammern umgebracht hatten.
    Die Leichen waren nackt und haben in einer Reihe auf dem Boden gelegen. Ich denke oft an dieses Bild, mit den ganzen Frauen. Dutzende und Aberdutzende. Sie liegen da und warten nur darauf, dass ich mit ihnen alles mache, wozu ich Lust habe.
    Ich kann sie in sämtliche Löcher vögeln. Ihnen die Augen ausstechen, oder die Nippel abschneiden. Ich will ganz viele Frauen auf einmal haben, einen ganzen Haufen. Sonst macht’s doch keinen Spaß, oder?
    Aber wie kann man mehr als eine auf einmal haben? Gibt es irgendeine Möglichkeit zu verhindern, dass eine Leiche verwest – eine Methode, sie frisch zu halten? Das würde ich gerne rausfinden, weil es nun mal keinen Spaß macht, wenn eine Frau einfach vergammelt und mich im Stich lässt …
    Ein Klopfen an der Zimmertür ließ Jane von ihrem Stuhl auffahren. Sie warf das angebissene Stück Pizza in den Karton zurück und rief: »Ja? Wer ist da?«
    »Ich bin’s«, antwortete Barry Frost.
    »Sekunde.« Sie ging ins Bad und schlüpfte in ihre noch feuchte Hose. Als sie zur Tür ging, hatten ihre Nerven sich schon wieder beruhigt, und ihr Puls raste nicht mehr. Sie machte die Tür auf – und erlebte eine Überraschung.
    Frost war nicht allein.
    Die Frau, die neben ihm stand, war in den Vierzigern, dunkelhaarig und ausgesprochen schön. Sie trug eine verwaschene Jeans und einen schwarzen Pullover, doch an ihrer schlanken, sportlichen Figur wirkte selbst diese legere Kleidung elegant.
    Sie sagte kein Wort zu Jane, sondern schob sich einfach an ihr vorbei ins Zimmer und befahl: »Schließen Sie die Tür ab.«
    Auch nachdem Frost den Riegel vorgelegt hatte, entspannte die Frau sich nicht. Sie ging gleich zum Fenster und zog die Vorhänge zu, als fürchtete sie, dass unfreundliche Augen sie durch die Ritzen beobachten könnten.
    »Wer sind Sie?«, fragte Jane.
    Die Frau drehte sich zu ihr um. Und in diesem Moment, noch ehe sie die Antwort hörte, sah Jane es in ihren Zügen, in den geschwungenen Brauen, den fein geschnittenen Wangenknochen. Ein Gesicht, wie auf eine griechische Vase gemalt, dachte sie. Oder auf die Wand einer ägyptischen Grabkammer.
    »Mein Name ist Medea Sommer!«, sagte die Frau. »Ich bin Josephines Mutter.«
     
    »Aber … Sie sind doch angeblich tot«, stieß Jane fassungslos hervor.
    Die Frau lachte matt. »Das ist jedenfalls die Legende.«
    »Josephine denkt, dass Sie tot sind.«
    »Ich habe ihr ja auch eingeschärft, dass sie das sagen soll.
    Leider glaubt ihr nicht jeder.« Medea ging zur Stehlampe und schaltete sie aus. Im stockdunklen Zimmer trat sie ans Fenster und spähte durch die Vorhangritze nach draußen.
    Jane wandte sich zu Frost um, den sie nur als schemenhafte Silhouette an ihrer Seite erkennen konnte. »Wie hast du sie gefunden?«, flüsterte sie.
    »Das habe ich nicht«, antwortete er.

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