Grabkammer
»Sie hat mich gefunden.
Eigentlich wollte sie mit dir sprechen. Als sie erfuhr, dass du nach Maine gefahren warst, hat sie stattdessen meine Telefonnummer ausfindig gemacht.«
»Warum hast du mir das nicht am Telefon gesagt?«
»Ich habe es nicht zugelassen«, warf Medea ein, die immer noch mit dem Rücken zu ihnen stand und auf die Straße hinausblickte. »Was ich Ihnen jetzt sage, muss innerhalb dieser vier Wände bleiben. Sie dürfen nichts davon Ihren Kollegen weitererzählen. Sie dürfen nirgends auch nur ein Wort darüber verlieren. Nur so kann ich weiter tot bleiben. Nur so hat Tari – Josephine – eine Chance auf ein normales Leben.« Selbst im Dunkeln konnte Jane sehen, wie straff der Vorhang gespannt war, den sie umklammert hielt. »Meine Tochter bedeutet mir alles«, sagte sie leise.
»Und warum haben Sie sie dann im Stich gelassen?«, fragte Jane.
Medea fuhr herum und funkelte sie an. »Ich habe sie nie im Stich gelassen! Ich wäre schon vor Wochen gekommen, wenn ich gewusst hätte, was hier geschieht.«
»Wenn Sie es gewusst hätten? Soviel ich weiß, schlägt sie sich schon seit Jahren allein durch. Und von Ihnen war die ganze Zeit nichts zu sehen.«
»Ich musste mich von ihr fernhalten.«
»Warum?«
»Weil meine Nähe für sie den Tod bedeuten könnte.« Medea drehte sich wieder zum Fenster um. »Diese Sache hat nichts mit Josephine zu tun. Sie ist für ihn nur ein Pfand. Ein Mittel, um mich aus der Reserve zu locken. Ich bin diejenige, die er in Wirklichkeit will.«
»Möchten Sie uns das vielleicht näher erklären?«
Mit einem Seufzer ließ Medea sich auf einen Stuhl am Fenster sinken. Sie war nur ein gesichtsloser Schatten, wie sie dort saß, eine leise Stimme in der Dunkelheit. »Ich will Ihnen eine Geschichte erzählen«, sagte sie. »Von einem Mädchen, das sich mit dem falschen Jungen einließ. Einem Mädchen, das so naiv war, dass sie den Unterschied nicht erkennen konnte zwischen naiver Verliebtheit und …« Sie hielt inne. »Und tödlicher Besessenheit.«
»Sie sprechen von sich selbst.«
»Ja.«
»Und wer war der Junge?«
»Bradley Rose.« Medeas dunkle Gestalt schien sich in den Stuhl zu ducken, als ob sie sich unsichtbar machen wollte. »Ich war erst zwanzig. Was weiß ein Mädchen denn mit zwanzig von der Welt? Es war mein erster Auslandsaufenthalt, meine erste Ausgrabung. In der Wüste sah alles anders aus, als ich es gewohnt war. Der Himmel war blauer, alle Farben intensiver.
Und wenn dann ein schüchterner Junge einen anlächelt, wenn er anfängt, einem kleine Geschenke zu machen, dann denkt man, man ist verliebt.«
»Sie waren mit Kimball Rose in Ägypten.«
Medea nickte. »Die Kambyses-Ausgrabung. Als ich die Chance bekam mitzufahren, habe ich sofort zugeschlagen. Wie Dutzende anderer Studenten auch. Und dann waren wir in der Libyschen Wüste, und unsere Träume wurden Wirklichkeit!
Am Tag gruben wir, nachts schliefen wir in unseren Zelten. Ich habe nie so viele Sterne gesehen, so viele wunderschöne Sterne.« Sie schwieg einen Moment. »Es war ein Ort, wo jeder sich hätte verlieben können. Ich war nur ein Mädchen aus Indio, das darauf brannte, das Leben kennenzulernen. Und da war Bradley, der Sohn des großen Kimball Rose. Er war gescheit, still und schüchtern. Und schüchterne Männer haben immer etwas an sich, was einen glauben macht, sie seien harmlos.«
»Aber das war er nicht.«
»Ich wusste nicht, was er tatsächlich war. Es gab so vieles, was ich nicht wusste – bis es zu spät war.«
»Was war er?«
»Ein Monster.« In der Dunkelheit hob Medea den Kopf.
»Anfangs habe ich es nicht gesehen. Was ich sah, war ein Junge, der mich mit großen Augen anhimmelte. Der mit mir über das eine Thema redete, das uns beiden am meisten am Herzen lag. Der anfing, mir kleine Geschenke zu bringen. Wir arbeiteten zusammen im Graben. Wir aßen immer zusammen. Und irgendwann schliefen wir auch zusammen.« Sie hielt wieder inne. »Von da an wurde alles anders.«
»Inwiefern?«
»Es war, als betrachtete er mich nicht länger als eine eigenständige Person. Ich war ein Teil von ihm geworden. Als hätte er mich verschlungen, mich in sich aufgesogen. Wenn ich zur anderen Seite des Lagers hinüberging, folgte er mir. Wenn ich mit jemand anderem sprach, verlangte er immer zu wissen, worüber wir geredet hatten. Wenn ich einen anderen Mann auch nur anschaute, regte er sich furchtbar auf. Er beobachtete mich ununterbrochen, spionierte mir nach.«
Es war eine so alte
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