Grabkammer
logische Zeitpunkt, die Stadt zu verlassen.
Die Polizei wusste, dass sie durch die heutigen Ereignisse verschreckt war, weshalb ihre Abreise keinen Verdacht wecken würde. Später würden sie vielleicht anfangen, Fragen zu stellen und nach Dokumenten zu suchen, aber im Moment hatten sie keine Veranlassung, ihre Vergangenheit unter die Lupe zu nehmen. Sie würden nicht daran zweifeln, dass sie diejenige war, als die sie sich ausgab: Josephine Pulcillo, die ein ruhiges und bescheidenes Leben führte, die sich ihr Studium und ihre Promotion finanziert hatte, indem sie in der Blue Star Cocktailbar als Bedienung gejobbt hatte. Das alles entsprach der Wahrheit. Es würde jeder Überprüfung standhalten. Solange sie nicht tiefer in ihre Vergangenheit eindrangen, solange sie selbst ihnen keinen Anlass dazu lieferte, würde sie keinen Alarm auslösen. Sie könnte unauffällig aus Boston verschwinden, ohne dass irgendjemand etwas merkte.
Aber ich will nicht aus Boston weggehen.
Sie blickte aus dem Fenster auf die Straße, das Viertel, das ihr ans Herz gewachsen war. Die Sonne war durch die Regenwolken gebrochen, und die Gehwege glitzerten wie frisch gewaschen. Als sie nach Boston gekommen war, um ihre Stelle anzutreten, war es März gewesen, und sie war fremd gewesen in diesem Viertel. Sie hatte sich gegen den eisigen Wind gestemmt und geglaubt, dass sie es in dieser Stadt nicht lange aushalten würde, weil sie nun einmal für ein warmes Klima geschaffen war, genau wie ihre Mutter; für die Hitze der Wüste und nicht für einen neuenglischen Winter. Aber an einem Tag im April, nachdem der Schnee geschmolzen war, hatte sie einen Spaziergang durch den Boston Common gemacht, vorbei an knospenden Bäumen und golden schimmernden Narzissen, und plötzlich war ihr klar geworden, dass sie hierher gehörte.
Dass sie sich in dieser Stadt, wo jeder Winkel, jeder Stein von der Vergangenheit zu erzählen schien, zu Hause fühlte. Sie war über das Kopfsteinpflaster von Beacon Hill geschlendert und hatte fast das Trappeln von Pferdehufen und das Rattern der Kutschenräder hören können. Sie hatte am Long Wharf an der Kaimauer gestanden und die Rufe der Fischhändler, das Gelächter der Matrosen zu vernehmen geglaubt. Genau wie ihre Mutter war sie schon immer mehr an der Vergangenheit als an der Gegenwart interessiert gewesen, und in dieser Stadt war die Geschichte noch lebendig.
Jetzt werde ich diese Stadt verlassen müssen. Und diesen Namen muss ich auch aufgeben.
Die Türklingel schreckte sie aus ihren Gedanken auf. Sie ging zur Gegensprechanlage und wartete noch einen Moment, ehe sie die Sprechtaste drückte, damit ihre Stimme nicht zitterte.
»Ja?«
»Josie, ich bin’s, Nicholas. Kann ich raufkommen?«
Da ihr keine akzeptable Ausrede einfallen wollte, ließ sie ihn herein. Kurz darauf stand er vor ihrer Tür. In seinen Haaren glitzerten Regentropfen, und durch die beschlagenen Brillengläser blinzelten seine grauen Augen sie besorgt an.
»Ist alles in Ordnung? Wir haben gehört, was passiert ist.«
»Wie habt ihr davon erfahren?«
»Wir haben vergeblich in der Arbeit auf dich gewartet. Dann sagte Detective Crowe uns, dass es Ärger gegeben hätte. Dass jemand dein Auto aufgebrochen hätte.«
»Es ist noch viel schlimmer«, erwiderte sie und ließ sich erschöpft auf das Sofa sinken. Er stand da und beobachtete sie, und zum ersten Mal machte sein Blick sie nervös – allzu eingehend musterte er sie. Plötzlich kam sie sich so hilflos ausgeliefert vor wie Madam X, ihrer schützenden Leinenbinden beraubt, sodass die hässliche Realität darunter zum Vorschein kam.
»Jemand hat meine Schlüssel gehabt, Nick.«
»Die, die du verlegt hattest?«
»Ich hatte sie nicht verlegt. Sie wurden gestohlen.«
»Du meinst – absichtlich?«
»Das ist bei Diebstahl meistens so.« Sie sah seinen verwirrten Gesichtsausdruck und dachte: Armer Nick. Du warst wohl so lange mit deinen verstaubten Antiquitäten eingesperrt, dass du keine Ahnung hast, wie hässlich die Welt in Wahrheit ist. »Es ist wahrscheinlich passiert, als ich in der Arbeit war.«
»Ach du liebe Zeit.«
»Die Museumsschlüssel haben nicht mit drangehangen, du musst dir also deswegen keine Sorgen machen. Die Sammlung ist nicht gefährdet.«
»Ich mache mir keine Sorgen um die Sammlung. Ich mache mir Sorgen um dich!« Er holte tief Luft, wie ein Schwimmer vor dem Sprung ins tiefe Wasser. »Wenn du dich hier nicht sicher fühlst, Josephine, dann kannst du jederzeit
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