Grabkammer
machen oder wohin ich mich wenden soll. Ich sitze in einem kleinen Dorf fest, und der einzige Mensch, den ich hier kenne, ist anscheinend nicht erreichbar.
Auf der Straße tauchten Scheinwerfer auf.
Das Auto kam auf sie zu – ein Streifenwagen mit Blaulichtaufsatz. Sie verharrte reglos, unsicher, ob sie sich in den Schatten verkriechen oder unverfroren weiter die Rolle des gestrandeten Fahrgastes spielen sollte.
Jetzt war es zu spät zum Davonlaufen; der Streifenwagen bog bereits auf den Parkplatz des Supermarkts ein. Das Fenster wurde heruntergelassen, und ein junger Streifenpolizist schaute heraus.
»Hallo, Miss. Werden Sie abgeholt?«
Sie räusperte sich. »Ich wollte mir gerade ein Taxi rufen.«
»Das Telefon ist defekt.«
»Das habe ich auch schon bemerkt.«
»Es ist schon ein halbes Jahr außer Betrieb. Die Telefongesellschaften machen sich kaum noch die Mühe, irgendwas zu reparieren, wo doch heutzutage jeder ein Handy hat.«
»Ich habe auch eines. Ich werde einfach damit anrufen.« Er musterte sie eine Weile kritisch; offenbar fragte er sich, wieso jemand, der ein Handy hatte, es zuerst an einem Münztelefon versuchte.
»Ich muss noch die Nummer nachschlagen«, erklärte sie und klappte das Telefonbuch auf, das in der Zelle hing.
»Okay, dann warte ich noch hier, bis das Taxi da ist«, meinte er.
Während sie zusammen warteten, erklärte er ihr, dass es vergangenen Monat hier auf diesem Parkplatz einen unerfreulichen Zwischenfall mit einer jungen Dame gegeben habe. »Sie war mit dem Elf-Uhr-Bus aus Binghamton gekommen, genau wie Sie«, sagte er. Seitdem fahre er immer um diese Zeit hier vorbei, um sicherzustellen, dass keine weiteren jungen Damen belästigt würden. Schützen und dienen, das war sein Job, und wenn sie wüsste, was für furchtbare Sachen manchmal passierten, selbst in einem kleinen Ort wie Waverly mit seinen viertausendsechshundert Seelen, dann würde sie nie wieder allein im Dunkeln auf einem Supermarktparkplatz herumstehen.
Als das Taxi endlich kam, hatte ihr Freund und Helfer ihr bereits so lange ein Ohr abgeschwatzt, dass sie schon fürchtete, er würde ihr bis zum Haus folgen, nur um den Plausch fortsetzen zu können. Doch sein Streifenwagen fuhr in die andere Richtung davon, und sie ließ sich mit einem Seufzer in die Polster sinken, während sie über ihre nächsten Schritte nachdachte. Als Allererstes stand Ausschlafen auf der Tagesordnung – in einem Haus, in dem sie sich sicher fühlte. Einem Haus, in dem sie ihre wahre Identität nicht verbergen musste. Sie jonglierte nun schon so lange mit Wahrheit und Fiktion, dass sie manchmal vergaß, welche Details ihres Lebens echt und welche Erfindung waren. Ein paar Drinks zu viel, ein Augenblick der Unachtsamkeit, und schon könnte ihr die Wahrheit herausrutschen, was ihr ganzes Kartenhaus zum Einsturz bringen würde.
Bei den wilden Partys im Studentenwohnheim war sie immer als Einzige nüchtern geblieben, und sie hatte sich auf die Kunst verstanden, locker über alles Mögliche zu plaudern, ohne irgendetwas über sich selbst preiszugeben.
Ich habe dieses Leben satt, dachte sie. Ich habe es satt, immer sämtliche Konsequenzen abwägen zu müssen, bevor ich auch nur ein Wort sage. Wenigstens heute Abend darf ich ich selbst sein.
Das Taxi hielt vor einem großen Farmhaus, und der Fahrer sagte: »Da wären wir, Miss. Soll ich Ihre Koffer zur Tür tragen?«
»Nein, das schaffe ich schon allein.« Sie bezahlte und begann, ihre Rollkoffer über den Gartenweg in Richtung Verandatreppe zu ziehen. Dort angelangt, blieb sie stehen und tat so, als suchte sie nach ihren Schlüsseln, bis das Taxi davonfuhr. Kaum war es außer Sichtweite, kehrte sie zur Straße zurück.
Nachdem sie fünf Minuten gegangen war, gelangte sie zu einer langen, gekiesten Zufahrt, die durch ein dichtes Waldstück führte. Der Mond war aufgegangen, und sie konnte gerade so viel sehen, dass sie nicht ins Straucheln geriet. Das Geräusch der Kofferräder, die durch den Kies pflügten, kam ihr erschreckend laut vor. Die Grillen im Wald waren verstummt, als hätten sie bemerkt, dass ein Eindringling ihr Reich betreten hatte.
Sie stieg die Stufen zu dem dunklen Haus hinauf. Nachdem sie ein paar Mal an die Tür geklopft und geklingelt hatte, wusste sie, was sie bereits vermutet hatte. Es war niemand zu Hause.
Kein Problem.
Sie fand den Schlüssel dort, wo er immer versteckt war, eingeklemmt unter dem Brennholzstapel auf der Veranda. Als sie die Tür aufschloss
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