Grabkammer
…« Plötzlich richtete er sich auf und erklärte kühn: »Ich habe zu Hause ein Gästeschlafzimmer. Du kannst gerne bei mir wohnen, wenn du möchtest.«
Sie lächelte. »Danke. Aber ich werde für eine Weile verreisen; und das heißt auch, dass ich die nächsten Wochen nicht zur Arbeit kommen werde. Tut mir leid, dass ich dich so hängen lasse, gerade in der jetzigen Situation.«
»Wohin fährst du?«
»Ich denke, es ist eine gute Gelegenheit, meine Tante mal wieder zu besuchen. Ich habe sie ein ganzes Jahr nicht mehr gesehen.« Sie trat ans Fenster und sah hinaus; ein Blick, den sie vermissen würde. »Danke für alles, Nicholas«, sagte sie. Danke, dass du mir ein Freund warst – mehr als jeder andere Mensch, mit dem ich in den letzte Jahren zu tun hatte.
»Was geht da wirklich vor sich?«, fragte er. Er trat von hinten an sie heran, nahe genug, um sie berühren zu können, was er aber nicht tat. Er stand einfach nur da, der stille Begleiter im Hintergrund, der er stets gewesen war. »Du kannst mir vertrauen, das weißt du. Ganz egal worum es geht.«
Plötzlich drängte es sie, ihm die Wahrheit zu sagen, ihm alles über ihre Vergangenheit zu erzählen. Doch sie wollte nicht mit seiner Reaktion konfrontiert werden. Er hatte an die unscheinbare Fantasiegestalt namens Josephine Pulcillo geglaubt. Er war immer nett zu ihr gewesen, und die beste Art, ihm seine Freundlichkeit zu vergelten, bestand darin, ihm seine Illusion zu lassen und ihn nicht zu enttäuschen.
»Josephine? Was ist heute passiert?«, wollte er wissen. »Du wirst es wahrscheinlich heute Abend in den Nachrichten sehen«, sagte sie. »Jemand hat meine Schlüssel benutzt, um sich Zugang zu meinem Auto zu verschaffen. Und etwas in meinen Kofferraum zu legen.«
»Was denn?«
Sie drehte sich um und sah ihn an. »Eine neue Madam X.«
Josephine erwachte, als die Strahlen der Abendsonne ihr in die Augen schienen. Blinzelnd spähte sie aus dem Fenster des Greyhound-Busses und sah sanft gewellte grüne Felder, in den goldenen Dunst des schwindenden Tageslichts getaucht. Die letzte Nacht hatte sie kaum geschlafen, und erst nachdem sie am Morgen diesen Bus bestiegen hatte, war sie endlich vor schierer Erschöpfung eingenickt. Jetzt hatte sie keine Ahnung, wo sie sich befand, doch nach der Zeit zu urteilen, mussten sie kurz vor der Staatsgrenze zwischen Massachusetts und New York sein. Mit dem eigenen Wagen hätte sie für die ganze Fahrt nur sechs Stunden gebraucht. So aber musste sie in Albany, Syracuse und Binghamton umsteigen und würde den ganzen Tag unterwegs sein.
Als sie endlich ihren letzten Umsteigebahnhof in Binghamton erreichten, war es schon dunkel. Wieder raffte sie sich mühsam auf, stieg aus und ging zum nächsten Münztelefon. Ein Handy konnte geortet werden, und sie hatte ihres nicht mehr eingeschaltet, seit sie in Boston losgefahren waren. Stattdessen kramte sie in ihrer Tasche nach Vierteldollars und fütterte damit das unersättliche Telefon. Sie bekam die inzwischen vertraute Ansage des Anrufbeantworters zu hören, gesprochen von einer forschen weiblichen Stimme.
»Ich bin wahrscheinlich wieder mal beim Buddeln. Wenn Sie Ihre Nummer hinterlassen, rufe ich Sie gerne zurück.«
Josephine legte wortlos auf. Dann schleppte sie ihre zwei Koffer zum nächsten Bus und reihte sich in die kurze Schlange von Passagieren ein, die darauf warteten, an Bord gehen zu dürfen. Niemand sprach; alle schienen genauso erledigt zu sein wie sie selbst und bereiteten sich schicksalsergeben auf die nächste Etappe ihrer Reise vor.
Um elf Uhr abends kam der Bus in dem kleinen Ort Waverlyan.
Sie stieg als einziger Fahrgast aus und fand sich allein vor dem Eingang eines dunklen Minimarkts. Selbst ein so winziges Kaff musste doch ein Taxiunternehmen haben. Sie steuerte die Telefonzelle an und wollte gerade ihre Vierteldollars einwerfen, als sie den Zettel mit der Aufschrift ›Außer Betrieb‹ sah, der über den Münzschlitz geklebt war. Es war der letzte Tiefschlag am Ende eines strapaziösen Tages. Sie starrte das nutzlose Telefon an und musste plötzlich lachen – ein kehliger, verzweifelter Laut, der über den leeren Parkplatz hallte. Wenn sie kein Taxi bekommen konnte, dann stand ihr ein Fußmarsch von fünf Meilen bevor, und das mit zwei Koffern.
Sie wog das Risiko ab, ihr Handy einzuschalten. Wenn sie es auch nur ein einziges Mal benutzte, könnte man sie hier orten.
Aber ich bin so müde, dachte sie, und ich weiß nicht, was ich sonst
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