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Grabkammer

Grabkammer

Titel: Grabkammer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tess Gerritsen
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und das Licht anknipste, konnte sie feststellen, dass das Wohnzimmer noch genauso aussah, wie sie es von ihrem letzten Besuch vor zwei Jahren in Erinnerung hatte.
    Immer noch waren sämtliche verfügbaren Regale und Nischen mit dem altbekannten Krimskrams voll gestopft, und die vertrauten Fotos in mexikanischen Schaukästen aus Blech zierten die Wände. Sie sah sonnengebräunte Gesichter, die unter breitkrempigen Hüten hervorgrinsten; einen Mann, der sich vor einer baufälligen Mauer auf einen Spaten lehnte; eine rothaarige Frau, die mit einer Kelle in der Hand in einem Graben stand und mit zusammengekniffenen Augen zur Kamera aufschaute.
    Die meisten der Gesichter auf diesen Fotos kannte sie nicht; sie waren Teil der Erinnerungen einer anderen Frau, Dokumente eines anderen Lebens.
    Sie ließ ihre Koffer im Wohnzimmer stehen und ging in die Küche. Dort herrschte das gleiche Durcheinander: Rußgeschwärzte Töpfe und Pfannen hingen an Haken an der Decke; die Fensterbretter dienten als Ablage für alles Mögliche, von buntem Seeglas bis hin zu Tonscherben. Sie füllte Wasser in einen Kessel und stellte ihn auf den Herd. Während sie darauf wartete, dass es kochte, ging sie zum Kühlschrank und betrachtete die Schnappschüsse, mit denen die Tür beklebt war. Inmitten dieser chaotischen Collage war ein Gesicht, das sie wieder erkannte. Es zeigte sie selbst im Alter von ungefähr drei Jahren auf dem Schoß einer Frau mit rabenschwarzem Haar. Josephine hob die Hand und strich zärtlich über das Gesicht der Frau, und sie erinnerte sich an die zarte Haut dieser Wangen, den Duft ihres Haars. Der Teekessel pfiff, doch Josephine blieb wie gebannt vor dem Foto stehen, konnte sich nicht losreißen vom hypnotisierenden Blick dieser dunklen Augen.
    Dann brach das Pfeifen des Kessels jäh ab, und eine Stimme sagte: »Ach, weißt du, es ist Jahre her, dass mich zuletzt jemand nach ihr gefragt hat.«
    Josephine fuhr herum und starrte die hoch aufgeschossene Frau mittleren Alters an, die gerade die Kochplatte abgedreht hatte. »Gemma«, murmelte sie. »Du bist ja doch zu Hause.«
    Die Frau schritt lächelnd auf sie zu und begrüßte sie mit einer herzhaften Umarmung. Gemma Hamerton hatte eher den Körperbau eines jungen Mannes als den einer Frau schlank, aber muskulös –, und sie hatte ihr silbergraues Haar zu einer praktischen Kurzhaarfrisur geschnitten. Hässliche Brandwunden entstellten ihre Arme, doch sie setzte sie ungeniert den Blicken der Welt aus, indem sie eine ärmellose Bluse trug.
    »Ich habe deine alten Koffer im Wohnzimmer wieder erkannt.« Gemma trat einen Schritt zurück, um Josephine gründlich von Kopf bis Fuß zu mustern. »Mein Gott, du wirst ihr von Jahr zu Jahr immer ähnlicher.« Sie schüttelte den Kopf und lachte. »Das ist eine eindrucksvolle DNA, die du da geerbt hast.«
    »Ich habe versucht, dich zu erreichen. Ich wollte keine Nachricht auf deinem Anrufbeantworter hinterlassen.«
    »Ich war den ganzen Tag unterwegs.« Gemma griff in ihre Handtasche und nahm einen Zeitungsausschnitt aus der International Herald Tribune heraus. »Ich habe kurz vor meiner Abreise aus Lima diesen Artikel entdeckt. Hat das irgendetwas mit dem Grund deines Besuchs zu tun?«
    Josephine las die Überschrift: CT von Mumie verblüfft Experten und stellt Behörden vor Rätsel. »Du weißt also Bescheid über Madam X.«
    »Man bekommt so einiges mit, selbst in Peru. Die Welt ist klein geworden, Josie.«
    »Vielleicht zu klein«, erwiderte Josephine leise. »Es bleibt mir kein Platz mehr, wo ich mich verstecken kann.«
    »Nach all den Jahren? Ich weiß gar nicht, ob du das überhaupt noch musst.«
    »Jemand hat mich gefunden, Gemma. Ich habe Angst.« Gemma starrte sie an. Langsam ließ sie sich gegenüber von Josephine auf einen Küchenstuhl sinken.
    »Erzähl mir, was passiert ist.«
    Josephine deutete auf den Artikel aus der Herald Tribune. »Es fing alles mit ihr an. Mit Madam X.«
    »Sprich weiter.«
    Anfangs kamen die Worte noch stockend; es war lange her, dass Josephine zuletzt offen gesprochen hatte, und sie war es inzwischen gewohnt, sich ständig zu kontrollieren, die Risiken jeder Enthüllung abzuwägen. Doch bei Gemma waren alle Geheimnisse sicher aufgehoben, und nachdem Josephine einmal angefangen hatte, sprudelten die Worte immer schneller und schneller hervor, in einem Strom, dem sie nicht mehr Einhalt gebieten konnte. Drei Tassen Tee später verstummte sie endlich und sank erschöpft gegen die Stuhllehne. Erschöpft

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