Grabkammer
Schultern ihr Alter. Am deutlichsten aber zeigte es sich in ihrem fast kahlen Schädel, auf dem nur noch wenige dünne weiße Haarbüschel wuchsen. So reich Kimball Rose auch sein mochte, seine Ehefrau hatte er nicht gegen ein jüngeres Modell eingetauscht. All ihr Geld, all ihre Privilegien konnten nichts an der unübersehbaren Tatsache ändern, dass Cynthia Rose schwer krank war.
Doch so gebrechlich sie auch wirkte, wie sie da auf ihren Stock gestützt vor ihnen stand – Cynthia ließ sich nicht so leicht von ihrem Willen abbringen. Sie sah den beiden Detectives in die Augen. »Wissen Sie, wo mein Bradley ist?«
»Nein, Ma’am«, antwortete Jane. »Wir hatten gehofft, dass Sie uns das sagen könnten.«
»Ich bring dich zurück in dein Zimmer«, sagte Kimball und nahm den Arm seiner Frau.
Sie schüttelte ihn ungehalten ab, ohne ihre Aufmerksamkeit von Jane zu wenden. »Warum suchen Sie nach ihm?«
»Cynthia, das hier hat nichts mit dir zu tun«, sagte Kimball.
»Es hat sehr wohl mit mir zu tun«, schleuderte sie ihm entgegen. »Du hättest mir sagen müssen, dass sie hier sind. Warum verschweigst du mir immer alles Mögliche, Kimball? Ich habe ein Recht darauf zu erfahren, was mit meinem eigenen Sohn ist!« Nach ihrem Zornesausbruch schien sie erst einmal außer Atem zu sein; sie wankte zum nächsten Sessel und sank darauf nieder. Dort saß sie so reglos, das man sie für eines der vielen Artefakte in diesem düsteren Raum voller Grabbeigaben hätte halten können.
»Sie sind gekommen, um noch mehr Fragen über dieses Mädchen zu stellen«, sagte Kimball. »Diese Studentin, die damals in New Mexico verschwunden ist. Das ist alles.«
»Aber das ist doch schon so lange her«, murmelte Cynthia.
»Ihre Leiche wurde vor Kurzem gefunden«, erklärte Jane.
»In Boston. Wir müssen mit Ihrem Sohn darüber sprechen, aber wir wissen nicht, wo er ist.«
Cynthia sackte noch tiefer in ihren Sessel. »Ich weiß es auch nicht«, flüsterte sie.
»Schreibt er Ihnen denn nicht?«
»Manchmal. Ab und zu kommt ein Brief aus irgendeiner Ecke der Welt. Dann und wann eine E-Mail, nur um mich wissen zu lassen, dass er an mich denkt. Und dass er mich liebt. Aber er besucht uns nicht.«
»Warum nicht, Mrs. Rose?«
Die Frau hob den Kopf und sah Kimball an. »Da sollten Sie vielleicht meinen Mann fragen.«
»Bradley hatte noch nie ein besonders enges Verhältnis zu uns«, sagte er.
»Das hatte er sehr wohl, bis du ihn fortgeschickt hast.«
»Das hat nichts damit zu …«
»Er wollte nicht gehen. Du hast ihn dazu gezwungen.«
»Wohin sollte er gehen?«, fragte Jane.
»Das tut nichts zur Sache«, versuchte Kimball abzuwiegeln.
»Ich mache mir Vorwürfe, weil ich mich dir damals nicht widersetzt habe«, sagte Cynthia.
»Wohin haben Sie ihn geschickt?«, hakte Jane nach.
»Sag’s ihr«, forderte Cynthia ihn auf. »Sag ihnen, wie du ihn davongejagt hast.«
Kimball stieß einen tiefen Seufzer aus. »Als er sechzehn war, haben wir ihn auf ein Internat in Maine geschickt. Er wollte nicht gehen, aber es war zu seinem eigenen Besten.«
»Ein Internat?« Cynthia lachte verbittert. »Es war eine psychiatrische Anstalt!«
Jane sah Kimball an. »Stimmt das, Mr. Rose?«
»Nein! Die Einrichtung wurde uns empfohlen. Die beste ihrer Art im ganzen Land, und glauben Sie mir, das spiegelte sich auch im Preis wider! Ich habe nur getan, was meiner Ansicht nach das Beste für ihn war. Was jeder gute Vater tun würde. Es nannte sich ›Therapeutische Wohngemeinschaft‹. Eine Einrichtung, in der männlichen Jugendlichen bei der Bewältigung ihrer … Probleme geholfen wurde.«
»Wir hätten es nie tun dürfen«, sagte Cynthia. »Du hättest es nie tun dürfen.«
»Wir hatten keine Wahl. Er musste dorthin.«
»Es wäre besser für ihn gewesen, wenn er hier bei mir geblieben wäre. Anstatt in ein Erziehungslager irgendwo im tiefsten Wald geschickt zu werden.«
Kimball schnaubte verächtlich. »Ein Lager? Ein Fünf-Sterne-Sporthotel, das trifft’s wohl eher.« Er wandte sich an Jane. »Sie hatten dort ihren eigenen See. Wanderwege und Langlaufloipen. Mensch, wenn ich irgendwann mal durchdrehen sollte, würde ich auch gern in so einen Laden geschickt werden!«
»Ist es das, was mit Bradley passiert ist, Mr. Rose?«, fragte Frost. »Ist er durchgedreht?«
»Sprechen Sie nicht von ihm wie von einem Geisteskranken«, sagte Cynthia. »Das war er nicht.«
»Und warum wurde er dann in diese Einrichtung eingewiesen, Mrs. Rose?«
»Weil wir
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